Am Anfang war ein Klumpen. Ein Klumpen Teig aus Weizenmehl, Wasser und einer Prise Salz. Wenn Weiping Xu ihn eine Weile in einer Mischung aus Eleganz und Wucht traktiert hat, sind daraus Nudeln geworden, die ganz kurz im schäumenden Wasser köcheln und dann in einer Brühe aus Rindfleisch, Suppenhuhn und 14 Gewürzen als schmackhafte Suppe serviert werden. Sie mit Essstäbchen aus der Schüssel zu fischen, ist eine echte Herausforderung, für Menschen, die schon mit Spaghetti kämpfen, wahrscheinlich eine Überforderung. Da hilft nämlich nur: ein Häufchen Nudeln mit den Stäbchen packen, reinschlürfen, bis der Mund voll ist und dann entschlossen mit den Zähnen durchtrennen. Der Rest der Nudelschlange sinkt zurück in die Suppe.
Weiping Xu steht an seiner Arbeitsplatte aus gesprenkeltem Stein in Max's Beef Noodles in der Sonnenstraße, direkt am Sendlinger Tor. Weißer Kittel, weißes Schiffsmützchen auf den kurzen schwarzen Haaren, etwas melancholischer Blick. Die Füße in hinten offenen Pantoffeln fest im Boden verankert, den Rücken leicht nach vorne gebeugt. Der 51-Jährige wirft sich auf den feuchten Teigklumpen, erst graben sich seine sehnigen, braunen Finger hinein, dann seine Handballen. Er zieht den Strang auf zwei Meter auseinander, faltet ihn auf die Hälfte zusammen, nochmal auf die Hälfte, lässt ihn kurz vor der Brust tanzen wie ein adipöses Springseil, verdreht ihn ineinander. Schneidet ihn dann in zirka 15 Zentimeter lange Fladen. Stäubt ein bisschen Mehl auf die Platte. Formt aus einem Fladen eine etwa 20 Zentimeter lange Rolle.
Und dann beginnt es, das faszinierende Schauspiel, das immer wieder Passanten draußen stehenbleiben und durch die Schaufensterscheibe des kleinen chinesischen Imbissladens spähen lässt. Acht bis zehn Sekunden nur dauert es. Um es bis in die letzte Verästelung zu verstehen, müsste man eigentlich filmen und sich die Prozedur in Zeitlupe anschauen. Oder eben sehr lange zuschauen - Weiping Xu erträgt den bohrenden Blick souverän.
Der Nudelmeister zieht den Strang zu einem leicht u-förmigen Bogen, führt das rechte Ende ans linke, greift rechts mit dem Zeigefinger hinein, ein-, zwei-, dreimal und abschließend einmal mit der Handkante, immer wieder zurück vom rechten Ende ans linke. Und auf wundersame Weise ist da ein armspannenbreites Bündel vier, acht-, zwölf, sechzehnfach aufgefältelter, über einen Meter langer Nudeln entstanden, sattgelb, dicker als Spaghetti. Ab in den Topf damit. Her mit dem nächsten Fladen.
Die Menschenschlange, die gierig aufs Verspeisen der Nudelschlangen ist, wird über die Mittagsstunden immer länger. Gegen 12.30 Uhr warten gut 20 Hungrige, einen Gratis-Jasmintee in der Hand, auf einen Platz an einem der Tischchen oder auf ihre Take-Away-Tüte. Ein Geheimtipp in München ist der kleine, 2018 eröffnete Familienbetrieb längst nicht mehr - spätestens seit er als solcher ins weltweite Netz hinausposaunt worden ist.
So virtuos Weiping Xu mit den Händen seine Nudeln formt, so zäh lässt er sich die Worte aus der Nase ziehen. Obwohl ein fließend Deutsch sprechender Neffe dolmetscht, gibt es nur Häppchen-Antworten. Tun ihm abends nicht die Hände weh? "Alles kaputt" sagt der 51-Jährige und wackelt kurz mit den Fingern. Wo und wie er das gelernt hat? "In China." Wie lange es dauert, bis man diese Kunstfertigkeit beherrscht? "Lange." Wieviel Kilo Teig täglich verarbeitet werden in dem kleinen Familienbetrieb? Er schweigt. Seine Frau Feng Yue Wu, die Chefin, sagt erst "weiß nicht", flüstert dann: "Geheimnis".
Gerne wüsste man noch viel mehr, etwa: Braucht er eine spezielle Fingerkräftigungsgymnastik, um diesem Beruf tagein, jahraus nachgehen zu können? Kneten, ziehen und falten seine Hände auch im Schlaf noch weiter? Aber Weiping Xus Augen huschen von der Warteschlange auf der Straße zu seinem verwaisten Arbeitstresen. "Keine Zeit, keine Zeit." Weg ist er. Weiter kneten, falten, ziehen.
Ein Kenner Chinas und seiner Küche klärt also auf: "La Mian heißt diese Technik, La bedeutet ziehen, Mian Nudel." Dies sei aber nur eine Art, Nudeln zu machen, es gebe "hunderterlei Nudeln" in China, "chinesische Nudeln haben den italienischen einiges voraus", schwärmt er. Manche Nudelmacher etwa nehmen den Teigklotz auf die Schulter, schaben mit dem Messer Stücke ähnlich wie Spätzle ab, die von der Schulter herab direkt in den Topf mit der kochenden Flüssigkeit fallen. Er und seine Frau, erzählt der China-Kenner, hätten während ihres langjährigen Aufenthalts im Lande mal versucht, die Kunst des Nudelmachens in einem Schnellkurs zu lernen. Am zweiten Tag haben sie aufgegeben.
Jede(r) braucht in seinem Beruf den Kopf zum Arbeiten. Manche benötigen darüber hinaus aber auch noch eine sehr spezielle Fingerfertigkeit. In unserer Serie stellen wir in loser Folge Menschen in München vor, die einer besonderen Hand-Arbeit nachgehen.