SZ-Adventskalender für gute Werke:"Ich will mich bestrafen, weil ich es nicht schaffe, in die Schule zu gehen"

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Mensch ärgere Dich nicht: beim gemeinsamen Brettspiel mit ihrem Vater merkt man Sophia ihre psychischen Belastungen nicht an. (Foto: Andrea Schlaier)

Nach einem Vorfall in der Familie rutscht die 14-jährige Sophia in eine tiefe Angststörung. Ihr Vater gibt seinen Job auf, um sich rund um die Uhr allein um sein Kind zu kümmern. Das Geld wird nun knapp. Der SZ-Adventskalender für gute Werke unterstützt in diesem Jahr wieder arme Kinder und ihre Familien.

Von Andrea Schlaier

Sophias Noten sind schon ein halbes Jahr zuvor abgesackt. Als ihr Vater Oliver Fräg im Dezember 2021 morgens ans Bett seiner Tochter tritt, damit sie rechtzeitig zum Unterricht aus den Federn kommt, schüttelt das Mädchen den Kopf: "Ich kann nicht aufstehen und in die Schule gehen." Es ist ein neuer Höhepunkt in einer Reihe von Panik-Attacken, die die heute 14-Jährige erlebt. Seit Januar 2022 war Sophia nicht mehr in der Schule.

Oliver Fräg hat schon ein Dreivierteljahr davor von heute auf morgen seinen Job an den Nagel gehängt. Der selbstständige IT-Analyst ist seither ausschließlich alleinerziehender Vater. Nach einem Beben in der Familie. "Ein Vorfall mit meiner Frau", sagt der 55-Jährige, der aus Sorge vor Stigmatisierung für diesen Artikel unter anderem Namen aufscheinen will. Ein Mann, erfolgreich und beruflich viel beschäftigt, gut situiert, dessen Leben komplett aus den Fugen gerät. "Meine Frau hat randaliert, es gab häusliche Gewalt." Fräg ruft die Polizei. "Es ist ein Alkoholproblem." Seit dem "Vorfall" leben Vater und Tochter allein in dem Häuschen, das seinen Eltern gehört.

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Und seither hat der Münchner kein Geld mehr verdient. Er lebt von seinen Ersparnissen. "In den letzten drei Jahren hab' ich fast meine ganzen Rücklagen und die Altersvorsorge verbraucht." Die Miete stunden ihm die Eltern. Oliver Fräg erzählt das im blank geputzten offenen Wohnraum bei einer Tasse Kaffee, kein Mucks ist zu hören im ganzen Haus. Sophia sitzt oben in ihrem Zimmer mit Kopfhörern auf den Ohren.

Zwei Monate nach der Eskalation im heimischen Wohnzimmer steht die Polizei bei Frägs wieder vor der Haustür. In einem Telefonat soll die Tochter Suizidgedanken geäußert haben, die Beamten wurden informiert. Der Vater will sein Kind nicht mehr unbeaufsichtigt lassen. Er sieht es in großer Not. Die Psychologen diagnostizieren eine "mittelgradige Depression mit Angststörung". Mitten in der Corona-Pandemie.

Jeder Versuch, das Kind wieder an einen Schulalltag anzunähern, schlägt fehl. Telefonate mit Lehrerinnen, Psychologinnen, wohlmeinenden Freunden. Fräg fährt Sophia vor immer neue Schulen mit neuen Ansätzen, sie schafft es nicht aus dem Auto, bekommt Schweißausbrüche. Im letzten Sommer ritzt sie sich. Warum, fragt ihr Vater? "Ich will mich bestrafen, weil ich es nicht schaffe, in die Schule zu gehen. Das schafft doch jedes kleine Kind." Die Angststörung hat sich manifestiert.

Inzwischen hatte Sophia auch längere Aufenthalte in der Jugend-Psychiatrie. "Man lebt von Woche zu Woche. Ich habe schon so oft gedacht, jetzt fängt's Leben wieder an." Die permanente Anspannung ist dem 55-Jährigen ins Gesicht geschrieben. Trotzdem, sagt Fräg, herrsche kein Dauer-Alarm. Tagsüber sitzen sie im Wohnzimmer, spielen Mensch ärgere Dich nicht, Uno, Backgammon. "Wir machen oft Waldspaziergänge, gehen radeln, regelmäßig kommt eine Freundin von Sophia zu Besuch." Weil sie aber weder in die Schule noch sonst in größere Gruppen gehe, sei es schwer mit gleichaltriger Gesellschaft.

"In drei, vier Monaten wird's jetzt auch richtig eng mit dem Geld." Der 55-Jährige fährt sich mit der flachen Hand quer über die Stirn. Er hat sich kürzlich um eine Festanstellung beworben. Wenn's aber klappt, wie käme seine Tochter damit klar? Gerade hat er wieder den Gas- und Stromanbieter gewechselt und spart damit 150 Euro im Jahr. Einen neuen Mobilfunkvertrag hat der Münchner auch, 20 Euro billiger als der alte. Längst ist er Discounter-Kunde. Der Schlagzeug-Unterricht für die Tochter ist gestrichen, die Kosten für den Auto-TÜV übernehmen die Eltern. "Die unterstützen mich, wo's geht."

Frägs Betreuerin im Sozialbürgerhaus - er bezieht keine staatlichen Leistungen - spricht davon, mit Spenden aus dem Adventskalender dem Vater, der sich "aufopferungsvoll und liebevoll um seine Tochter" kümmere, eine Sorge abzunehmen. Am Ende des Gesprächs geht die Tür von Sophias Zimmer auf, sie kommt nach unten, den Besuch zu begrüßen. "Sie merken ihr tagsüber nichts an", hat ihr Vater schon vorher angekündigt. Für ein Foto setzt sie sich freundlich zugewandt mit ihm an den Tisch. Die beiden spielen Mensch ärgere Dich nicht.

So können Sie spenden: "Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung e.V." Stadtsparkasse München IBAN: DE86 7015 0000 0000 6007 00 BIC: SSKMDEMMXXX

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