Adventskalender für gute Werke:Ein S-Bahn-Ticket zum Auswärtsspiel - da reicht das Geld oft nicht

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Sanne Wittkock (Name geändert) und ihre Kinder möchten nicht erkannt werden, niemand soll erfahren, wie knapp das Geld bei ihnen ist. (Foto: Andrea Schlaier)

Mara ist eine hochtalentierte Fußballerin. Doch wenn sie keine Mitfahrgelegenheit hat, muss sie manchmal daheimbleiben. Wie der SZ-Adventskalender für gute Werke unterstützt arme Kinder und ihre Familien unterstützt.

Von Andrea Schlaier

Die Kinder sind krank und das kommt ihnen gerade recht. Mara und Matthias wollen nicht, dass sie jemand zu Hause besucht und mit ihrer Mutter darüber spricht, dass sie vergangene Woche die 500-Gramm-Packung Nudeln bei Lidl stapelweise kaufte, weil sie statt 90 Cent nur 39 Cent gekostet hat. Dass sie nicht mit in die Soccer-Halle zum Extra-Training ihres Fußballvereins gehen, weil das jedes Mal zehn Euro verschlingt, sie stattdessen absagen und darauf verweisen, lernen zu müssen. Dass ihre Mutter sich mit Unterstützung vom gesparten Taschengeld der Kinder eine neue Brille leistet, weil sie mit der alten seit Jahren nicht mehr scharf sieht. Die Geschwister wollen nicht, dass irgendjemand erfährt, dass sie arm sind.

Also trifft sich ihre Mutter zum Gespräch über das Leben der Münchner Familie auswärts, im Café. Und vereinbart gleich zu Beginn, dass sie für die Geschichte einen anderen Namen trägt. Zum Beispiel Sanne Wittkock. Die Geschwister heißen natürlich auch anders. "Mara hat gesagt, es ist gut und wichtig, dass du das alles erzählst, aber sie hat gleichzeitig panische Angst, dass jemand rauskriegen könnte, dass wir das sind." Die zwei jüngeren ihrer vier Kinder seien geprägt von den zwei "Großen", die inzwischen ausgezogen sind und ihr eigenes Geld verdienen. "Wenn ich stinken würde", habe ihre Älteste mal gesagt, "könnte ich verstehen, dass ich gemobbt werde. Aber nicht, weil ich arm bin."

Im glitzernden München lebt fast jeder fünfte Haushalt mit Kindern an der Armutsgrenze. Besonders betroffen sind dabei Töchter und Söhne von Alleinerziehenden. Die zwei älteren und die zwei jüngeren von Sanne Wittkocks Kindern sind von unterschiedlichen Vätern. Beide Männer zahlen keinen Unterhalt und übernehmen auch sonst keinerlei Verantwortung. Die gelernte Fachfrau für Bürokommunikation - "früher hat man Sekretärin gesagt" - hat seit der Geburt ihres ersten Kindes vor 20 Jahren ausschließlich Minijobs angenommen. "Die Kleinen haben mich gebraucht, es war nie leicht." Die 43-Jährige selbst stammt aus einer Großfamilie mit Armutserfahrung. In der hat sie zudem andere schmerzliche Erfahrungen gemacht. Deshalb haben die Enkel auch zu diesen Großeltern keinen Kontakt.

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Arm sein macht einsam. Deshalb ist Sanne Wittkock so froh, dass Mara und Matthias, beide 14 und innerhalb eines Jahres geboren, so gut in ihre Fußballclubs eingebettet sind. "Sportvereine sind wichtig für Kinder, was den sozialen Zusammenhalt angeht. Sie bekommen Anerkennung, egal ob sie arm oder reich sind." Anfang des Jahres hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung konstatiert, dass Kinder aus armutsgefährdeten Familien seltener Mitglied in Vereinen sind.

Das überrascht nicht. Woher nehmen? Die vierfache Mutter macht am Beispiel ihrer jüngsten Tochter eine lange Rechnung auf: Mara, das Fußballmädchen, gilt als überdurchschnittlich talentiert, ist für eine überregionale Auswahl gescoutet. Fast jeden Tag steht sie auf dem Spielfeld, der Verschleiß an Fußballschuhen, der Bedarf an Trikots und Trainingsklamotten, die Extra-Kosten für Trainingslager, es nimmt kein Ende. "Da reicht der städtische Zuschuss von 15 Euro für Kinder, die in Vereinen sind, einfach nicht." Durch Zufall hat Sanne Wittkock von einer Mitarbeiterin des Sozialbürgerhauses erfahren, dass die Stadt außerdem einmal im Jahr einen Zuschuss von 200 Euro für Sportsachen beisteuere. "Das hat mir den Hintern gerettet."

Wegen der hohen Inflation verzichten die Kinder aufs Taschengeld

Die Trainer und Vereine weiht Wittkock nur teilweise in ihre finanziellen Verhältnisse ein. Es könnte helfen - "aber drüber zu reden kostet mich Überwindung und die Kinder wollen es auch nicht". Sie kann ihre Tochter nicht immer zu Auswärtsspielen begleiten, weil die auch außerhalb Münchens stattfinden, an Orten, die mitunter sehr dürftig ans öffentliche Verkehrsnetz angebunden sind. Die 43-Jährige hat kein Auto, und Mitfahrgelegenheiten sind rar. So rar, dass selbst die Tochter nicht immer eine ergattert, und wenn dann das S-Bahn-Ticket zu teuer ist, kann die 14-Jährige selbst nicht mit zum Spiel.

Die Familie lebt von Bürger- und Kindergeld. Die Miete von 1100 Euro für die Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, 83 Quadratmeter, Mehrfamilienhaus, aus der die beiden großen Kinder erst kürzlich ausgezogen sind, wird übers Bürgergeld abgeglichen. Nach Abzug von Versicherungen, Strom, Telefon, Vereinskosten, "wenn halt alle Rechnungen beglichen sind", sagt die Mutter, "bleiben 850 Euro für Lebensmittel und Kleidung". Seit die Inflation so in die Höhe geschossen ist, verzichteten die Kinder aufs Taschengeld.

Einmal die Woche stellt sich die Mutter bei der Tafel an. "Wir sind froh, wenn viel Obst und Gemüse dabei ist, damit kannst du arbeiten und im Winter viel Eintopf machen." Spätzle würden sehr über die Runden helfen, und "wenn es Milch gibt, ist das mega, damit rechnest du gar nicht". Brot backt sie schon lange selbst. "Ist billiger und besser."

Der Sohn braucht bald ein iPad für die Schule

Das Gymnasium, das Matthias besucht, will auf iPads umstellen. Ein paar stellt die Einrichtung auch zur Verfügung. Aber ob die für alle reichten, die sich kein eigenes leisten könnten, sei fraglich. Sanne Wittkock bläst die Backen auf. Schule ist so teuer, "kaufen Sie nur mal einen Füller". Obwohl die Stadt übers sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket im Jahr Kosten für Schulbedarf in Höhe von insgesamt 174 Euro übernimmt, reiche das nicht für all die Hefte, Arbeitsmaterialien, Bücher und das Kopiergeld.

Ein Zuschuss für Manuels iPad könnten die Wittkocks also gut brauchen, und einen für Maras Trainingslager und -kleider. Der 43-Jährigen, die jahrelang auf der Couch geschlafen hat und zuletzt auf Manuels Palettenliege, tun jeden Morgen die Knochen weh. Sie bräuchte ein neues Bett.

Sanne Wittkock geht jeden Morgen mit den Kindern aus dem Haus. Sie engagiert sich seit Jahren ehrenamtlich in der Schule. "Mein Ziel ist es, nächstes Jahr wieder beruflich einzusteigen, damit ich meinen Unterhalt selbst finanzieren kann." Nur gesundheitlich müsste sie noch fit werden. "Man hat immer die Kinder im Blick und stellt sich selbst hinten an."

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