Akademie Tutzing:Der Versöhner

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Roger François Philippe de Weck war Chefredakteur der "Zeit" und Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. Nun wird er öfter in Tutzing sein. (Foto: Robert Haas)

Roger de Weck übernimmt die Leitung des renommierten Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing. Kann der 68-jährige Schweizer das exklusive Altherrenimage abschütteln?

Von Viktoria Spinrad, Tutzing

Kaum hatte er sein Plädoyer für das Modell ostdeutscher Kinderbetreuung beendet, kam eine junge Frau auf ihn zu. Eine Frau mit Kurzhaarschnitt. Er kannte sie nicht, aber sie küsste seine Wange. Danke, sagte sie. Dass er auch ein paar positive Schlaglichter über das Land ihrer Jugend setzte, habe sie sehr gefreut.

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Es war das Jahr 1990, kurz vor der Wiedervereinigung. Die junge Frau hieß Angela Merkel. Ihre Ostpartei ging gerade in der CDU auf, und wie so oft ging es in der herrschaftlichen Tutzinger Schlossakademie am Starnberger See um die großen Fragen. Auch der damalige Leiter des Wirtschaftsressorts der Hamburger "Zeit", Roger de Weck, damals 36, war geladen. Es war sein erster Besuch bei der prominenten Vordenkerfabrik, und es sollte nicht sein letzter bleiben.

32 Jahre später erzählt de Weck diese Anekdote im Münchner Presseclub und seziert die Lage der Welt. Der hochgewachsene 68-Jährige mit dem überlegten, leicht entfremdeten Deutsch wischt mit den Händen durch die Luft und breitet die Arme aus. Bei ihm sind es nur wenige Zentimeter vom innerdeutschen Zusammenhalt zu Chinas Arroganz, vom Zustand der deutschen Parteien zur Lage im Kaukasus, von Fridays for Future zur Frage der gemeinsamen Weltpolitik. Seine Analyse, sagt Akademiedirektor Udo Hahn, der Mann neben ihm, rage heraus, weil es ihm gelinge, "über die Darstellung der wahrlich enormen Herausforderungen hinaus den Blick für Lösungen zu schärfen."

Picknick im Park - die Evangelische Akademie Tutzing öffnete am Fronleichnamstag ihren Park für die Bevölkerung und gut 1000 Gäste kamen. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

De Weck ist sein neuer Auserwählter. Der Mann, der vom ehemaligen Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, 78, übernimmt und nun den Politischen Club führt. Jenes Diskussionsformat am pittoresken Starnberger See, das - zumindest unter Insidern - Legendenstatus hat. Hier prägte Egon Bahr 1963 die nun infrage gestellte Maxime des "Wandel durch Handel". Hier schmiedeten Angela Merkel, de Weck und weitere 1990 an einem Gerüst für das neue, alte Deutschland. Hier sinnierte Bundeskanzler Olaf Scholz nur einen Tag nach seinem Besuch in der Ukraine im Sommer über den "brutalen wie rücksichtlosen" Krieg Russlands in der Ukraine und die Zukunft der Demokratie.

Auf Wellenlänge: Akademiedirektor Udo Hahn mit Roger de Weck, dem neuen Leiter seines Vorzeigegremiums. (Foto: Robert Haas)

Er gehe die Aufgabe mit großem Respekt an, sagt Roger de Weck denn auch, ganz der Mann der alten Schule. Vielen in Deutschland dürfte der Name des Schweizers kaum etwas sagen. Anders als Thierse und viele seiner Vorgänger: Günther Beckstein, Hans Eichel, Theo Waigel, Heiner Geißler. De Weck ist keiner, der durch die Talkshows tingelt, die, wie er andeutet, eben den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie unterlägen. Stattdessen schreibt er vor allem. Mal verteidigt er das Gendern, mal Greta Thunberg, mal entwirft er Rettungsszenarien für die Demokratie, mal moderiert er zwischen deutschen und Schweizer Gefühligkeiten.

Was unter anderem dazu führt, dass ihn die einen Medien als "überzeugten Konservativen", die anderen als "überzeugten Liberalen" etikettieren. Darauf angesprochen lächelt er. "Wenn man mich nicht allzu klar verorten kann, ist mir das ganz recht", sagt er. Manchen hingegen ist sein Mehr-Demokratie-und-mehr-Realismus-Programm dann doch ein wenig zu lauwarm. Hier stehe jemand immer auf der richtigen Seite, schrieb die FAZ über sein 2020 erschienenes Buch "Die Kraft der Demokratie". Was folgt, ist - man kann es nicht anders sagen - ein ziemlicher Verriss. De Weck formuliere "politische Binsenweisheiten", so die Autorin, er bleibe "stets politisch korrekt".

Dass er durchaus auch polarisieren kann, zeigte er in einer kürzlich erschienenen Hommage an die ungeliebten Öffentlich-Rechtlichen. Das Online-Angebot sei "erstklassig", ARD, ZDF und Deutschlandfunk seien eine "stabile Rückversicherung in unsicheren Zeiten", ja, "Weltspitze". Da rappelte es im Twitter-Account von "Zeit Online". "Eine gelungene Satire", schrieb einer, "ist alles nur woker Müll", ein anderer.

Dass er sich meist dann aber doch in der Rolle zwischen den Stühlen wiederfindet, mag auch an seiner Biographie liegen. 1953 geboren, "zu jung für einen Achtundsechziger, zu alt für ein Computerkind", wie er selber sagt. Im Schweizer Freiburg, 70 Kilometer bis Frankreich, 130 Kilometer bis Deutschland. Sandwichkind inmitten von sechs Geschwistern, ständiger Wechsel zwischen Genf und Zürich, der französischen und der deutschsprachigen Schweiz.

Die Sprache lernte er erst mit zehn Jahren, wobei man schon sehr genau hinhören muss, um die ein oder andere schiefe Deklination zu erkennen. Sein Vater war Verwaltungsrat von Nestlé und Vizepräsident der Vatikanbank. Kann ein 68-jähriger Schweizer Elitespross das exklusive Altherrenimage einer der renommiertesten deutschen Denkfabriken abschütteln?

Es hat ja etwas Abgeschottetes und Entrücktes, wie das Tutzinger Schloss da in der Landschaft steht, gleich zwischen Ortszentrum und See. Tatsächlich sind die Zeiten, in denen Tagungsteilnehmer zwei Empfehlungen von Bürgen brauchen, längst passé. Jedermann kann mitmachen, auch wenn das Durchschnittsalter noch Luft nach unten hat. Daran arbeitet nicht zuletzt Akademiedirektor Udo Hahn. Seit seinem Antritt vor elf Jahren legte er für die Akademie neue Accounts an: auf Youtube, Facebook und Instagram.

Mit noch ausbaubarem Erfolg. Dass Scholz im Juni vor Ort war, dafür erhielt die Akademie grad mal zwei digitale Daumen nach oben . Da interessieren die jungen Leute doch eher Dinge wie die Trennung von Influencer-Duo Bibi und Julian und Hashtags wie Foodporn. De Weck schreckt das nicht ab, im Gegenteil. Ja, die Art und Weise, wie die junge Generation debattiere, sei oft eine andere, sagt er. Ihm gefalle sie aber, sagt er und berichtet dann von einer Begegnung mit zwei jungen Klimaaktivisten bei der jüngsten Junitagung. Es sei ein "richtig spannendes, konstruktives, weiterführendes, und so hochkompetentes Gespräch vonseiten der beiden" gewesen - eines, das er in dieser "schönsten Lage mit Weitsicht" gerne fortführen würde.

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse leitete den Politischen Club. (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Wie er das in der Rolle des Vermittlers im Politischen Club machen könnte, lässt sich mit einem Blick in seine vielen Auftritte als Moderator erahnen. Da greift er blitzschnell das vorher Gesagte auf, ist auch mal auf charmante Art frech und legt sonst den Kopf in die Hand, hört zu und lässt die Leute reden. Das, sagt er, sei ihm auch wichtig. "Sonst lässt man Goldklumpen am Wegesrand liegen." Moderation sei eben jedes mal ein Abenteuer, in dem der Ball idealerweise rolle und sich der Moderator nicht aufplustere.

Das erste Kapitel dieses neuen Abenteuers beginnt im November. Dann geht es um die Frage, wie eine zukunftsfähige Ostpolitik aussehen kann. Es referieren etwa der ehemalige polnische Botschafter, Janusz Reiter, der ehemalige Außenminister der DDR, Markus Meckel und Marina Weisband, eine deutsch-ukrainische Politikerin, Publizistin und Psychologin. Eigentlich, sagt de Weck, sei es doch ungerecht, dass auf die Bundesregierung eingehauen werde, dass sie nicht noch mehr schwere Waffen liefere - nicht aber auf die französische, die noch weniger liefere. "Wieso wird hier mit zweierlei Maß gemessen?"

Es ist einer von vielen Perspektivwechseln. Ein wohlwollender Blick auf Deutschland. Vielleicht braucht es dafür einen Außenstehenden, zum Beispiel einen Schweizer Intellektuellen.

Die Herbsttagung des Politischen Clubs zum Thema "Deutschland und Osteuropa - auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Ostpolitik" findet vom 11. bis 13. November in der Evangelischen Akademie Tutzing statt. Vortragsgebühr 65 Euro, Übernachtung ab 137 Euro. Anmeldungen werden hier entgegengenommen.

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