Sicherheit:Polizei am Limit

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  • "Es geht nicht mehr!": Seit 2011 nehmen in fast allen Dienststellen des Polizeipräsidiums die Überstunden der Beamten kontinuierlich zu.
  • Nun schlagen Gewerkschafter und Politiker Alarm.
  • Auf 200 bis 300 zusätzliche Polizisten beziffert der Bezirksvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft den Bedarf allein im Polizeipräsidium München.

Von Martin Bernstein, München

Diesmal sind es die Polizisten selbst, die Alarm schlagen: "Es geht nicht mehr!" Mails mit diesem Inhalt bekommt Jürgen Ascherl, der Bezirksvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, in diesen Tagen häufig. Falscher Alarm ist es wohl nicht. Aus einer Antwort des Bayerischen Innenministeriums auf eine Anfrage des Münchner SPD-Landtagsabgeordneten Florian von Brunn vom August geht hervor, dass schon in den Jahren seit 2011 in fast allen Dienststellen des Polizeipräsidiums die Überstunden der Beamten kontinuierlich zunehmen.

Hört man sich um, wie die Situation in diesem Jahr ist, kommen immer wieder dieselben Begriffe: G-7-Gipfel, Flüchtlingssituation, Großveranstaltungen. "Die Lage ist sehr grenzwertig", sagt auch Oskar Schuder, Bezirkschef der im DGB organisierten Gewerkschaft der Polizei.

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Einsatzbelastung "auf einem sehr hohen Niveau"

Auch in diesen Tagen. Donnerstag: Solidaritätskundgebung für Frankreich, Basketball-Europaligaspiel, Lesung des mit einer Todesdrohung belegten Schriftstellers Salman Rushdie im Cuvillies-Theater. Freitag: Solidaritätskundgebung der islamischen Gemeinden mit den Opfern der Terroranschläge. Samstag: Zweitliga-Fußballspiel 1860 gegen St. Pauli. Sonntag: Viertliga-Derby im Grünwalder Stadion, ein sogenanntes "High-risk"-Spiel.

Und es geht so weiter. Montag: Pegida-Kundgebung mit Gegendemonstration. Dienstag: Champions-League-Spiel des FC Bayern in der Arena. Dazwischen die vielen, kaum noch zu zählenden Einsätze, weil besorgte Bürger Hinweise auf Anschläge oder Terroristen erkannt haben wollen.

Das Polizeipräsidium gibt sich offiziell zurückhaltend. Es stimme, die Einsatzbelastung sei in diesem Jahr "auf einem sehr hohen Niveau" - und das setze sich auch so fort. Für die Einsatzkräfte sei das "eine große Herausforderung". Und, nein, momentan sei eine Entlastung nicht möglich.

Rufe der Gewerkschaften überhört

"Weil man jahrelang die Rufe der Gewerkschaften überhört hat", schimpft Ascherl. Wenn jetzt zusätzliches Personal versprochen werde - von 500 Beamten und 80 Tarifkräften ist die Rede, bayernweit - dann empfinden viele Münchner Polizisten und ihre Interessenvertreter dies als Tropfen auf den heißen Stein. Auf 200 bis 300 zusätzliche Polizisten beziffert Ascherl den Bedarf allein im Polizeipräsidium München. Doch bis die Ausbildung eines neu eingestellten Polizisten abgeschlossen ist, vergehen drei Jahre.

Kurzfristige Besserung ist eher schwierig. Und München ist vielleicht - Stichwort: Demonstrationen und Großereignisse - ein Sonder-, beileibe aber kein Einzelfall. Im Polizeipräsidium Rosenheim ist die Belastung durch die Flüchtlingssituation besonders stark zu spüren. Als am Dienstag bekannt wurde, dass die Ebersberger Polizei einem Juwelier, der gerade Trickdiebe im Laden hatte, nicht zu Hilfe kommen konnte, da bestätigt der Pressesprecher des Präsidiums in Ingolstadt: Die Kollegen hätten "tatsächlich keine Streife verfügbar" gehabt. Die Personalsituation sei "insgesamt sehr angespannt", sagt er. Allein in Ebersberg fehlten fast 25 Prozent der Sollstärke. Dennoch müsse gelten: "Wenn die Polizei gerufen wird, sollte sie natürlich auch kommen."

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"Keiner traut sich was zu sagen"

Gewerkschafter Ascherl bezweifelt genau das. Und wählt drastische Worte: "Wenn bei uns wirklich ein Anschlag passiert, dann wird es dunkel." Statt auf Vorbereitung müsse man auf Improvisation setzen, weil Personal fehle und die Ausstattung zu wünschen übrig lasse. "Wo Sie hinkommen", bestätigt SPD-Politiker von Brunn, "ist immer nur von Überstunden die Rede - und von Konzentration auf das Wesentliche".

Die Defizite gleichen die Münchner Beamten "durch eine enorm hohe Motivation" aus, sagt Gewerkschafter Schuder. Das Verhalten der Polizisten sei trotz der hohen Belastung vorbildlich, das habe er gerade bei der Ankunft der Flüchtlinge am Hauptbahnhof gespürt. Da gebe es "keine Frustration", meint Schuder.

Doch wie lange noch, wenn Polizisten Überstunden vor sich herschieben und Besserung nicht in Sicht ist? Stattdessen, so Jürgen Ascherl, gebe es Durchhalteparolen. "Keiner traut sich was zu sagen." Vielleicht behält aber auch von Brunn mit seiner Prognose Recht. Der Landtagsabgeordnete sagt: "Die momentan angespannte Lage ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt." Fazit des Gewerkschafters Ascherl: "Wir sind am Limit."

© SZ vom 23.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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