Serie "München erlesen" (39):Täuschend echt

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Franz Marcs "Der Turm der blauen Pferde", 1913 in Sindelsdorf gemalt, ist eine Ikone der klassischen Moderne - und inspiriert bis heute Künstler und Autoren. (Foto: imago stock/imago/WHA UnitedArchives015648)

Bernhard Jaumanns Kunstkrimi "Der Turm der blauen Pferde" kreist um ein berühmtes Gemälde von Franz Marc.

Von Florian Welle

Vier Pferde, vier Kraftpakete, aufgeschichtet zu einem monumentalen blauen Turm. Ihre Körper sind muskulös, vor allem die Kruppen sind wuchtig und massiv. Alle blicken in eine Richtung, dorthin, wo ein Regenbogen in der Ferne aufleuchtet.

Franz Marcs "Der Turm der blauen Pferde" ist eine Ikone der klassischen Moderne. 1913 im beschaulichen Sindelsdorf gemalt, wurde es noch im selben Jahr in dem von Herwarth Walden organisierten "Ersten Deutschen Herbstsalon" einem irritierten Publikum präsentiert. Nach dem Ersten Weltkrieg wanderte das großformatige Gemälde des 1916 an der Front gefallenen Künstlers in die Berliner Nationalgalerie, bis es die Nazis in den Dreißigerjahren beschlagnahmten. Kurzzeitig hing es 1937 in der Ausstellung "Entartete Kunst", ehe es wieder entfernt wurde: Es gab Protest gegen die Diffamierung eines Weltkriegsopfers. Schließlich riss es Hermann Göring für seine Privatsammlung an sich. Seit 1945 gilt das eindrückliche Meisterwerk als verschollen und wurde auf diese Weise erst recht zu einem Mythos.

"Wo ist der Turm der blauen Pferde heute - als Gemälde, als Erinnerung, als ferner Zauber?" fragten 2017 die Staatliche Graphische Sammlung München und das Berliner Haus am Waldsee in einem Gemeinschaftsprojekt und luden zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler ein, sich mit dem nicht mehr auffindbaren Bild auseinanderzusetzen. Norbert Bisky zum Beispiel malte es nach, um die Kopie anschließend wieder zu zerstören und die Trümmer auszustellen. Tobias Rehberger wiederum zeigte eine Lichtinstallation mit dem vieldeutigen Titel "Something else is possible".

Warum ist das Bild verschwunden? Bernhard Jaumann hat da eine sehr spezielle Idee

Es ist nicht überliefert, ob Bernhard Jaumann von der Ausstellung zu seinem Kunstkrimi "Der Turm der blauen Pferde" inspiriert wurde. So oder anders, 2019 erschien im Verlag Galiani der erste Fall der von ihm ersonnenen, auf Provenienzforschung spezialisierten Münchner Kunstdetektei von Schleewitz, der mittlerweile auch als Taschenbuch vorliegt. Seither erschien mit "Caravaggios Schatten" bereits ein zweiter Band der Krimireihe, im März wird "Banksy und der blinde Fleck" folgen.

Der mysteriöse Verbleib von Marcs Werk bietet dem Schriftsteller im ersten Fall die fantastische Gelegenheit, herumzuspintisieren, ein paar Spitzen gegenüber dem "verrückten Kunstzirkus" loszuwerden und klug zu unterhalten. Der gebürtige Augsburger Autor konfrontiert die Leser mit einer ausgefuchsten, immer wieder neue Volten schlagenden Version, wie und warum das Bild nach dem Zweiten Weltkrieg auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Soviel sei verraten: Ein Berchtesgadener Bauernbursche ist wie verzaubert von den blauen Pferden, als er sie im Mai ʼ45 zufällig in einem Eisenbahntunnel entdeckt. Es ist Liebe auf den ersten Blick, die er fortan vor den Augen der Welt zu verbergen sucht und dabei auch vor Mord nicht zurückschreckt.

Damit jedoch nicht genug. Bernhard Jaumann, der für seine vorangegangenen Krimis mit dem Friedrich-Glauser- und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde, lässt das Werk wieder auftauchen. Im schwülen Sommer des Jahres 2017 lädt Egon Schwarzer, ein mit Schrauben steinreich gewordener Unternehmer, Rupert von Schleewitz und seine Kollegin Klara Ivanovic in seine Villa am Starnberger See ein, um ihnen zu offenbaren, dass er gerade den "Turm der blauen Pferde" für lächerliche drei Millionen erworben habe: "Ein absolutes Schnäppchen, wenn es echt ist. Ist es Ihrer Meinung nach echt?"

Ein Vexierspiel um Wahrheit und Lüge

Im Folgenden entspinnt sich ein Vexierspiel um die Fragen nach Original und Fälschung, Wahrheit und Lüge, Schein und Sein. Dafür könnte das dem Buch vorangestellte Motto - ein Zitat von Franz Marc - nicht treffender sein: "Erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort." Jaumann treibt das Spiel allerdings so weit, dass seine Spürnasen am Ende sogar an sich selbst zweifeln.

Die unterkühlte Klara, die in Haidhausen wohnt, sich am Isarstrand sonnt und abends im Mariandl am Beethovenplatz abhängt, fragt sich ernsthaft, ob sie ein "authentisches Leben" führt. Der 38-jährige Rupert wiederum, Typ ewiger Kindskopf, erkennt bei seinen Recherchen, dass Menschen sehr oft gar nicht die sind, die sie zu sein vorgeben. Auch bei Max Müller, dem dritten im Bunde, ist alles anders als gedacht. Der verheiratete Bibliothekar muss auf schmerzliche Weise lernen, im vermeintlich trauten Heim genau hinzuschauen, um zu verstehen, welche Probleme seine pubertierende Tochter wirklich plagen.

Bernhard Jaumann nimmt sich Raum, um seine neuen Detektive einzuführen. Von Teamspirit kann in dem ersten Fall noch nicht die Rede sein. Alle sind hauptsächlich als Solokämpfer unterwegs und recherchieren jeweils in München, Pasing und Berchtesgaden. Mit dem Ergebnis, dass jeder auf eine andere unerhörte Herkunftsgeschichte von Marcs wiederaufgetauchtem Werk stößt. Welcher traut man? Glaubt man überhaupt einer? Eine allzu berechtigte Frage, denn es tauchen immer weitere identische Gemälde auf, und es scheint, als solle Klaras Vater Vladimir, selbst bildender Künstler und zuständig für die wirklich markigen Sprüche im Buch, Recht behalten: "Original oder nicht, letztlich ist doch alles falsch."

Bernhard Jaumann, Der Turm der blauen Pferde. Kunstdetektei von Schleewitz ermittelt. Band 1. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 336 Seiten, TB 11 Euro.

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