SZ-Adventskalender:Wenn die Seele aus dem Gleichgewicht gerät

Lesezeit: 3 min

Es gibt Schicksalsschläge, die in die Armut führen. (Foto: Jessy Asmus)

Das Schicksal hat das Leben von Alfons F. einige Male getroffen. Bei einem Überfall wurde sein Jochbein zertrümmert, doch die Verletzungen waren nicht nur physisch.

Von Berthold Neff

Es lief alles gut am Anfang, auch wenn das Schicksal bei Alfons F. (Name geändert) früh zuschlug. Er war erst 13 Jahre alt, als die geliebte Mutter starb, nach drei langen Jahren, in denen der Krebs sie immer mehr ausgezehrt hatte und nur Morphium ihre Schmerzen lindern konnte. Dann hatte auf dem kleinen Bauernhof in Niederbayern, den die Familie im Nebenerwerb betrieb, nur noch der strenge, herrische Vater das Sagen. Mach dies, mach das, nein, zum Fußball gehst du mir nicht. Der einzige Lichtblick waren die drei Geschwister und vor allem die Großmutter mütterlicherseits. "Sie war immer für mich da", sagt Alfons F., dabei fährt sich der fast 1,90 große Mann mit der Hand kurz über die Augen. Die Erinnerung an die Oma ist eine gute.

Der Albtraum geschah im August 1986, in einer warmen Sommernacht. Der damals 30-Jährige arbeitete als Restaurantleiter eines Gasthofs in Haar und war, mit dem Tresorschlüssel in der Tasche, schon fast zu Hause, als er nach einem Schlag auf den Hinterkopf umfiel und kurz das Bewusstsein verlor. Der große, kräftige Mann kam aber wieder auf die Beine, versuchte den Baseballschläger zu packen, mit dem ihn einer der beiden Täter angegriffen hatte. Danach verlor Alfons F. wieder das Bewusstsein.

"Dieser Überfall hat mir einen physischen und psychischen Knacks gegeben."

Das Jochbein und die Augenhöhle waren zertrümmert, die Ärzte im Schwabinger Krankenhaus brauchten drei Operationen, um die Knochen wieder zu stabilisieren. Seine Seele aber war dermaßen aus dem Gleichgewicht geraten, dass fast nichts mehr ging. "Dieser Überfall hat mir einen physischen und psychischen Knacks gegeben", sagt er.

Eines Abends, da lag er noch im Krankenhaus, ging in der Dämmerung die Zimmertür auf und zwei Männer kamen rein. "Das hat mich so erschreckt, dass ich fast nicht mehr atmen konnte", sagt Alfons F. Zum Glück waren es zwei Kripobeamte, die sich noch nach bestimmten Details des Überfalls erkundigen wollten. Gefasst wurden die Täter bis heute nicht.

Sein bisheriges Leben aber hatten sie gründlich zerstört. Die Wohnung, an deren Eingang der Überfall geschah, musste er aufgeben. Wenn er abends heimkam, wenn es schon dunkel war, und die Thujahecke sah, hinter der sich die Täter versteckt hatten, "musste ich zittern, ich hatte das alles noch im Hinterkopf". Trotzdem begann er wieder zu arbeiten, als Kellner, auch als Geschäftsführer, "aber ich war nicht mehr belastbar". Eines Tages kippte er, kreideweiß, einfach um, der Blutdruck war außergewöhnlich hoch, und auch drei Kuren brachten keine Besserung, sondern ein niederschmetterndes Verdikt: erwerbsunfähig, und das mit 42 Jahren.

Die Wohnung in Ramersdorf, wo er sich so wohlgefühlt hatte, war nicht mehr zu halten, und 1997 bekam er vom Amt seine jetzige in Neuperlach, anderthalb Zimmer, "aber für mich reicht es". Er besitzt ja nicht viel, die Küche überließ ihm die Vormieterin für 100 Mark, die Couch kaufte er günstig gebraucht, als die vorige auseinanderfiel, und auch der kleine Fernseher tut noch seinen Dienst, mit einem Zusatz-Receiver. Die Miete beträgt 425 Euro im Monat, und seit die Strompreise explodiert sind, bleibt, wenn die Krankenkasse den Beitrag abgebucht hat, trotz der 150 Euro Aufstockung vom Amt kaum etwas zum Leben übrig. Wann er den letzten Urlaub gemacht hat? Da kann Alfons F. nur müde lächeln: "Das ist nicht mehr drin."

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Es reicht ihm ja schon, wenn er die Kraft hat, mit dem Fahrrad ein paar Touren in der Umgebung zu machen, aber seit den beiden Operationen an den Krampfadern im rechten Bein "geht das auch nicht mehr ohne Weiteres". Und als er eines Abends nur noch die Hälfte des TV-Bildschirms sah, fuhr ihm erneut der Schreck in die Glieder, es war ein leichter Schlaganfall, mit Augeninfarkt, wie in der Augenklinik festgestellt wurde.

Irgendwann, als ihm das alles zu viel wurde und so richtig aussichtslos erschien, griff er zum Alkohol. "Ich habe aber schnell gemerkt, das ist keine Lösung, und hab es selbst in den Griff bekommen." Heute trinkt er höchstens mal ein Bier, wenn er sich mit den wenigen Freunden trifft, die ihm noch geblieben sind.

Nun versucht er, mit dem zurechtzukommen, was er hat - und ohne das, was ihm fehlt. Er versucht, sich gesund zu ernähren, wenig Fleisch, viel Gemüse, "aber selbst das Olivenöl ist heute doppelt so teuer geworden". Ein paar Dinge bräuchte er auch für die kleine Wohnung, die er sich einfach, aber gemütlich eingerichtet hat. Gleich am Eingang, neben der Garderobe, hängt ein geschnitztes Kruzifix an der Wand, daneben zeigt ihn ein Jugendfoto in kurzer Lederhose, aus der Zeit, als die Welt noch vor ihm lag und eine gute Zukunft bereitzuhalten schien. Als noch niemand ahnen konnte, dass jene Nacht kommen würde, "die mein Leben so radikal verändert hat".

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