Oper:Die graue Welt der Unterdrückung

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Im Einheitlichen Staat sind alle gleich, wer sich wehrt, hat Probleme: Die hellsichtige Oper "Wir", uraufgeführt in Regensburg. (Foto: Martin Sigmund)

In Regensburg ist die Uraufführung der dystopischen Oper "Wir" zu sehen, in der es um ein totalitäres System geht. Es ist ein Auftragswerk des Hauses, für das der russische Komponist Anton Lubchenko beinahe zum Problem geworden wäre.

Von Michael Stallknecht, Regensburg

Im Einheitlichen Staat geht es schnell mit den Kindern. Kaum geboren, bekommen sie die Nummer, die sie lebenslang tragen werden. Auf Willen des Großen Wohltäters sind Familien verpönt, für die Erfüllung körperlicher Bedürfnisse werden die Nummernmenschen einander zugelost. So ersann es der russische Schriftsteller Jewgeni Samjatin nur wenige Jahre nach der Oktoberrevolution in seinem hellsichtigen Roman "Wir". Während das Werk in der Sowjetunion verboten wurde, wurde es im Westen zur Inspirationsquelle für die ganz ähnlichen Dystopien George Orwells und Aldous Huxleys.

Die Oper, die das Theater Regensburg nach dem Roman in Auftrag gegeben hat, erlebte alles andere als eine leichte Geburt. Zweimal musste die Premiere wegen Corona-Fällen verschoben werden, nun, beim dritten Anlauf, hätte der Komponist zum Problem werden können. Schließlich ist Anton Lubchenko, der dem Haus bereits 2015 mit "Doktor Schiwago" einen Publikumserfolg beschert hatte, eng mit zentralen russischen Kulturinstitutionen verbunden, war zudem Composer in Residence des umstrittenen Semperopernballs in Dresden. 2014 unterzeichnete er die Erklärung der Kulturschaffenden für die Annexion der Krim. Es waren die Jahre, als er auf persönlichen Wunsch von Wladimir Putin das Opernhaus in Wladiwostok als "Fenster nach Asien" aufbauen sollte. Doch dann kam Valery Gergiev und annektierte sozusagen das Haus, als östliche Filiale seines eigenen Mariinsky-Theaters.

Lubchenko hat sich vom Krieg in der Ukraine distanziert

Vielleicht haben die Erfahrungen dazu beigetragen, dass Lubchenko sich deutlich vom Krieg in der Ukraine distanziert, ihn bereits im Vorfeld der Premiere als Aggression verurteilte, die "durch nichts, durch keine politischen Begründungen gerechtfertigt werden kann". Lubchenko trennt zwischen dem russischen Volk, das diesen Krieg nicht wolle, und den "wahnsinnigen Kriminellen", die ihn führten. Die Zivilbevölkerung, fügt er im Pressegespräch vor der Vorstellung an, sei zu intelligent, zu begabt, und Russland nicht Nordkorea. Seine Librettistin Darya Panteleeva sitzt in Untersuchungshaft, nachdem sie gegen den Krieg protestiert hatte.

In ihrer Bearbeitung von "Wir" konzentrieren sich die beiden auf die Liebesgeschichte, die sie dramaturgisch gekonnt auf Opernbedürfnisse zuschneiden. Der Ingenieur D-503, eigentlich eine feste Stütze des Einheitlichen Staats, verliebt sich in die Oppositionelle I-330, die für alles steht, was das totalitäre System gefährden kann: Sie raucht, trinkt, macht Musik, lockt D-503 in die alternative Welt hinter der "grünen Mauer". Vor allem aber besitzt sie Fantasie, die Menschen helfen kann, so etwas wie eine "Seele" auszubilden. Um die entstehende Revolution zu unterbinden, lässt der regelmäßig per Scheinwahl akklamierte Große Wohltäter den Kindern die Fantasie aus dem Hirn operieren, was im Lobgesang des Cantemus-Kinderchors für einen der schaurigsten Momente des Abends sorgt.

Hinter der "grünen Mauer" existiert eine andere Welt, in die die Oppositionelle I-330 (Gesche Geier) den Ingenieur D-503 (Igor Onishchenko) lockt. (Foto: Martin Sigmund)

Wie auch der Opernchor sujetgemäß im Großeinsatz ist, vom Bühnen- und Kostümbildner Michael Lindner in einheitliche graue Trainingsanzüge gekleidet. Lubchenkos Klangästhetik kommt das insofern entgegen, als er es üppig liebt. Obwohl er die Partitur wegen Corona auf 28 Musiker reduziert hat, sausen ununterbrochen die Streicher, röhrt das tiefe Blech, klöppeln die zusätzlich von außen zugespielten drei Schlagwerker, energisch befeuert von Tom Woods aus dem ohnehin überakustischen Regensburger Graben. Dabei greift Lubchenko auch auf Stile zeitgenössischer U-Musik zurück, bindet Jazz, Pop, sogar Rap ein. Vor allem aber hört man die großen russischen Vorbilder durch, Tschaikowski, Prokofjew, den jungen Schostakowitsch. Es sorgt für einen neoromantischen Überschwang, der den Sängern viel abverlangt. Igor Onishchenko bietet für die lange, fordernde Partie des D-503 ein großes, wohlgerundetes Baritongeschütz auf und weiß, selbst geborener Ukrainer, auch mit der russischen Sprache hörbar am Idiomatischsten umzugehen. Die Sopranistin Gesche Geier als I-330 bindet die stark geforderte Höhe souverän in große Bögen ein. Interessanterweise ist der erst am Schluss persönlich auftretende Große Wohltäter mit dem Countertenor Onur Abaci besetzt, der als einer der wenigen auch Atonales zu singen bekommt.

Denn Lubchenko, regelmäßig für das St. Petersburger Len-Film-Studio auch als Filmkomponist tätig, vereint seinen Stilmix zu einem Soundtrack, wie man ihn eher von Blockbustern kennt: weitgehend tonal, im Detail gekonnt instrumentiert, aber auf beständige emotionale Überwältigung ausgerichtet. Das widerspricht letztlich einer Geschichte, in der technokratische Entseelung verhandelt wird. Nüchterner bleibt da schon die Inszenierung von Maximilian Eisenacher und Christina Schmidt, die die Figuren in strengen Tableaus anordnet und mittels Videoprojektionen (Jonas Dahl) für einen technoiden Anstrich sorgt. Anton Lubchenko jedenfalls wird jetzt erstmal nach St. Petersburg zurückkehren, um an seinem nächsten Film zu arbeiten, einer Koproduktion übrigens mit der Schweiz. Die russisch-westlichen Kulturbeziehungen werden komplex bleiben.

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