Bundesweite Umsetzung geplant:Die "Wonder Women" lernen das Gründen

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Wissen für Gründer vermittelt ein Workshop der Stiftung Pfennigparade Menschen mit körperlichen Einschränkungen wie Milan Bacskai. (Foto: Stephan Rumpf)

An der Fachoberschule der Stiftung Pfennigparade läuft ein inklusiver Workshop speziell für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Die Teilnehmer sollen befähigt werden, sich beruflich selbständig zu machen.

Von Ellen Draxel

Sie nennen sich "Wonder Women": vier Schülerinnen der inklusiven Fachoberschule der Stiftung Pfennigparade, die ein Start-up namens "Free Wheel" gründen möchten. Felicitas Fischer ist eine von ihnen. Die 19-Jährige sitzt im Rollstuhl und kennt das Gefühl nur zu gut, wie es ist, vor einem kaputten Aufzug zu stehen. Sie ist viel in der Stadt unterwegs und ärgert sich jedes Mal, wenn wieder ein Lift auf ihrer Route, die sie sich mühsam herausgesucht hat, nicht funktioniert.

"Ich kann mir inzwischen zwar ganz gut selbst helfen, aber viele andere tun sich schwer damit", weiß die Elftklässlerin. Nicht nur Menschen mit einer körperlichen Einschränkung. Auch Eltern mit Kinderwagen, Senioren und Seniorinnen mit Rollator, Personen mit einem Fahrrad oder mit Gepäck stünden oft vor einem defekten Fahrstuhl und müssten dann erst mühsam herausfinden, wie sie weiterkommen.

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Eine App, so die Idee der vier jungen Frauen, könnte das Problem beheben helfen. Indem sie anzeigt, welche Aufzüge im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs intakt sind und welche nicht. Indem sie aber auch gleich eine Alternativroute mitliefert, sollte der ursprünglich geplante Weg nicht umsetzbar sein. "Wir würden das Ganze gerne mit der Münchner Verkehrsgesellschaft zusammen machen", erzählt Fischer ihren Mitschülern bei der Präsentation des Konzepts.

Im Klassenzimmer sitzen an diesem Vormittag Mitte Februar neben Schülern mit und ohne körperliche Einschränkung auch Lehrer, Mentorinnen und Mentoren. Außerdem Mitarbeiter und Manager der Bank Unicredit, die die Jugendlichen bei ihren Plänen unterstützen. Denn "Free Wheel" ist nur eine von insgesamt sieben Unternehmensgründungs-Visionen, die derzeit 26 Schüler und Schülerinnen des Sozial- und Wirtschaftszweigs der Fachoberschule an der Schwabinger Barlachstraße erarbeiten. "Entrepreneurship inklusiv" nennt sich das spezielle Programm, das jungen Menschen insbesondere, aber nicht nur mit einer körperlichen Behinderung den Zugang zu beruflicher Selbständigkeit eröffnen soll.

"Free Wheel" heißt eine Unternehmensgründungs-Idee, die Felicitas Fischer (im Rollstuhl) und Defa Kebe im Seminar vorstellten. (Foto: Stephan Rumpf)

"Was wir hier machen, ist eine Operation am offenen Herzen, das gibt es bisher so noch nirgends", sagt Thomas Heymel. Er leitet den Bereich "Corporate Development" im Rehabilitationszentrum für Körperbehinderte und hat in den vergangenen Jahren viele strategische Partnerschaften mit großen Unternehmen aufgebaut, unter anderem mit der Unicredit. Heymels Vision: den jungen Leuten im Rahmen eines dreimonatigen Schulprojekts strategisches Werkzeug an die Hand zu geben, das sie befähigt, sich selbständig zu machen. Bislang arbeiten Menschen mit Einschränkungen in speziellen Werkstätten oder als Angestellte bei Firmen. Auf die Idee, selbst ein Start-up zu gründen, kommen die wenigsten.

"Sie haben sich bisher einfach nicht in der Position gesehen, diesen Schritt zu gehen", weiß Veronika Moj. "Dabei braucht es Menschen mit Beeinträchtigungen, um progressive Ideen zu entwickeln. Nur so kann eine Gesellschaft wirklich inklusiv werden." Moj, studierte Managerin sozialer Innovationen, moderiert und verantwortet das Programm und hat mit Heymel dafür die Firma "Your Capabilities" gegründet - weil das Projekt außer bei der Pfennigparade langfristig bundesweit auch noch an anderen Schulen umgesetzt werden soll. Die Anna-Freud-Schule in Köln ist bereits mit im Boot, denn das von der Pfennigparade initiierte Programm findet in diesem Frühling schon zum sechsten Mal statt.

Um das Erlernen unternehmerischer Kenntnisse geht es in einem neuen Modul der Stiftung Pfennigparade. (Foto: Stephan Rumpf)
Lernt in dem Workshop von Teilnehmern ebenso wie seine Schüler von ihm: Mentor Johannes Mylius. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Inhalte der Ausbildung sind klassisch. Während der drei Monate lernen die Jugendlichen alles über Geschäftsmodelle und Sozialunternehmen, außerdem Finanzierungskonzepte, Ideenfindungs- und Marktforschungsprozesse. Lehrreich ist die Zusammenarbeit in den insgesamt neun Workshops aber auch für die Mentoren: "Der Umgang mit den jungen Leuten ist sehr direkt, humorvoll, achtsam und herzlich und macht einfach sehr viel Spaß", sagt Stefanie Frank, die die "Wonder Woman" coacht. "Da können sich viele von uns eine Scheibe abschneiden." Ihre Kollegin Sigrid Hausmann empfindet das Ehrenamt als "Horizont-Erweiterung".

Auch der Bank-Mitarbeiter Johannes Mylius ist begeistert und weiß, dass das Interesse bei der Unicredit dieses Mal größer war als das Angebot an freien Plätzen. "Sonst", meint er lachend, "haben wir ja nur mit Zahlen zu tun". Für die Banker, erklärt Moj, sei die Teilnahme an dem inklusiven Projekt ein kompletter Perspektivwechsel. "Das ist das zweite Ziel, das wir damit verfolgen: die Menschen zu öffnen." Eigentlich, sagt sie und schmunzelt, wisse man letztlich gar nicht mehr, wer da mehr lerne - die Schüler oder die Mentoren.

Möglichst früh zu erfahren, dass der Weg in die Selbständigkeit für jede und jeden möglich ist, sei "wichtig", betont man auch beim Projekt "Besser". Weil der Schritt dann leichter falle. "Besser" ist die Abkürzung für ein vom Bundessozialministerium initiiertes Projekt namens "Barrierefrei Existenz gründen. Selbständig und erfolgreich im Erwerbsleben mit Behinderung". Die Mitarbeiter dort sind Kenner der Materie: Seit dem Start des Projekts in Bayern im Oktober 2022 haben sie mehr als 70 teils schwerbehinderte Menschen beraten, von denen schließlich sieben den Schritt in die Selbständigkeit gewagt haben.

Und die Nachfrage steigt: Mittlerweile erhalten sie bei der Anlaufstelle in Nürnberg jede Woche drei bis vier Anfragen. "Die Selbständigkeit ist für viele Menschen mit Behinderung eine große Chance", weiß der wissenschaftliche Leiter des Projekts, Stefan Zapfel. Weil die Menschen so ihr Potenzial optimal nutzen könnten, indem sie den Job ihren eigenen Bedürfnissen anpassten. "Für einige ist es die einzige Möglichkeit, am Arbeitsleben teilzuhaben."

Lebenserfahrungen fließen direkt in die Gründervisionen ein

An Kreativität mangelt es den jungen Leuten in der Stiftung Pfennigparade jedenfalls nicht. Nicht nur die App-Idee der "Wonder Women", auch die Vorschläge der anderen Gruppen belegen, wie sehr die jungen Leute ihre bisherigen Lebenserfahrungen in ihre Gründervisionen einfließen lassen. Das Team um Milan Bacskai etwa will eine Plattform zur Vermittlung personalisierter Nachhilfe von Schülern für Schüler entwickeln. "Denn oft ist es so, dass Nachhilfelehrer ihren Schülern bestimmte Dinge einfach nicht erklären können, weil sie unterschiedliche Denkweisen haben", argumentiert der 19-Jährige. Aus Mojs Sicht tatsächlich eine "Marktlücke".

Eine andere Schülergruppe kümmert sich darum, Rückzugsorte für Jugendliche zu finden, die nicht nach Hause oder zu Freunden wollen, aber schnell Ruhe und jemanden zum Reden in einem "Safe Space" brauchen. Und sollte das Projekt "Meetly" realisiert werden, fänden Unternehmen, die inklusive Arbeitsplätze schaffen wollen, schnell Interessenten, denn das Team um Keira Drinkuth plant eine Webseite zu Praktika, Mini- und Ferienjobs mit inklusivem Filter.

Dass das Konzept aufgeht, beweist der Erfolg eines der Alumni. Yannick Andricek war bei dem Durchlauf vor zwei Jahren dabei, sein Team wollte damals mittels einer App Menschen dabei helfen, ihren CO₂-Ausstoß zu messen. Die Umsetzung war schon weit gediehen, als es Probleme in der Gruppe gab. Andricek schwenkte um und gründete YA-media - eine Firma für Videoschnitt und Design.

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