Ganz München ist zur Eröffnung auf der Wiesn... Ganz München? Nein! Immerhin 10 000 unbeugsame Klassikbegeisterte haben am Samstagabend den Weg zu "Oper für alle" gefunden, warten auf Decken und Matten auf den ersten Auftritt des Bayerischen Staatsorchesters nach der Sommerpause. Ein paar Lederhosen sieht man, die vielleicht zwischen beiden Großveranstaltungen hin und her schwanken, ansonsten vereinen sich am Marstallplatz Jeans und T-Shirts mit Abendgarderobe zu einer Mischung, wie sie schon lange typisch ist für das Konzert, das früher immer im Rahmen der Opernfestspiele stattfand. Mit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren hat es Serge Dorny auf den Spielzeitbeginn verlegt, ebenso wie das "Unicredit Septemberfest". Der neue Intendant wollte einen öffentlichkeitswirksamen Auftakt, nachdem die erste Neuinszenierung im Nationaltheater immer erst deutlich später Premiere feiert. Außerdem wollte er das Bayerische Staatsorchester seinem Namen gemäß für ganz Bayern spielen lassen, im ersten Jahr in Ansbach, im zweiten in Rosenheim. Was in einem typisch bayerischen September auch schiefgehen kann, wie das letzte Jahr zeigte, als es in Strömen regnete.
Doch diesmal hat Dorny Glück, es herrscht, nun eben, Wiesnwetter. Das fünfhundertjährige Jubiläum des Staatsorchesters sei der Anlass, das Konzert einmal wieder "fast im eigenen Garten" stattfinden zu lassen, erklärt er vorab beim Treffen mit den Sponsoren von BMW und HypoVereinsbank. BMW sorgt seit 25 Jahren dafür, dass "Oper für alle" kostenlos zugänglich ist, die HypoVereinsbank, Mitglied von UniCredit, fast schon ebenso lange für die Unicredit-Nacht, die früher zu Festspielbeginn stattfand. Im Gegensatz zu den Besuchern auf dem Platz dürfen die Sponsoren an Tischen auf richtigen Stühlen sitzen. Die besten Plätze haben sie dennoch nicht, eher im Gegenteil. Das Restaurant "the spice bazaar" ist hipp, aber mindestens einhundert Meter vom Orchester entfernt. Sehen werden manche Geldgeber weder den Pianisten Yefim Bronfman noch Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski, der selbstverständlich selbst dirigiert. Dafür gibt es Essen, doch der Hauptgang kommt erst zehn Minuten vor Konzertbeginn. Wäre man Sponsor, man wäre jetzt vermutlich etwas verstimmt.
Doch die Sponsoren sind höfliche Menschen, oder satte. Sie lassen das Essen kalt werden, während irgendwo da vorn Robert Schumanns Klavierkonzert in a-Moll erklingt. Immerhin ist die Tonqualität deutlich besser als üblicherweise bei Open-air-Veranstaltungen, statt Stereo setzt die Staatsoper erstmals auf ein Immersive-Audio-System. Die auf den Decken und Matten hören vermutlich noch räumlicher, doch auch nach hinten überträgt sich der fein austarierte Dialog zwischen Bronfman und Jurowski beziehungsweise dem Orchester. Denn die bieten der Masse ihrer Zuhörer keineswegs eine Hau-drauf-Version von Schumanns einzigem Klavierkonzert, sondern eine ausgesprochen filigrane. Man lässt sich Zeit, ohne zu schleppen, Jurowski gibt dem amerikanisch-israelischen Pianisten Raum für seinen weichen, dennoch genau nuancierten Anschlag. Bronfman spielt sinnierend, stürmt selbst zu Beginn der Solokadenz nicht gleich los, betont damit Schumanns Romantizismus. Mit der untergehenden Sonne verschmilzt er zur perfekten Spätsommeratmosphäre.
Schließlich hatten Bronfman und das Staatsorchester schon Gelegenheit zum gemeinsamen Einspielen bei der laufenden Europatournee. Schrägerweise ist das Heimspiel auf dem Marstallplatz nur Zwischenstation, an diesem Montag geht die Tournee in London weiter. Zeit zum Wäschewaschen also für die Musiker, worüber man gern mehr erfahren würde von den Orchestervorständen, die während der Umbaupause befragt werden. Vielleicht auch über das Konzert in Luzern, das von Klimaaktivisten gestört wurde. Aber angesichts der drögen Fragen von Moderatorin Nina Eichinger sagen die Vorstände nur das Erwartbare: welchen Respekt sie vor der fünfhundertjährigen Tradition haben, vor der langen Reihe berühmter Generalmusikdirektoren. Und dass Klimawechsel auf einer Tournee manchmal anstrengend sein können.
Die "Alpensinfonie" von Richard Strauss bietet viel für Augen und Ohren: 114 Musiker mit 35 verschiedenen Instrumenten
Ganz im hiesigen Klima bleibt, was nach der Umbaupause kommt: die "Alpensinfonie" von Richard Strauss, in ihrer Anschaulichkeit wie dem nicht sehr diskreten Hang zur Überwältigung ideal für ein Open Air. Von einer Bergwanderung erzählt Strauss darin, beginnend noch vor Sonnenaufgang, hinaufführend bis auf einen Gletscher, einem gefährlichen Abstieg mitten im Gewitter, der erst nach Sonnenuntergang endet. 114 Musiker mit 35 verschiedenen Instrumenten, darunter Wind- und Donnermaschine, bieten viel für Augen - wenn auch nicht die der Sponsoren - und Ohren. Die Herdenglocken und die (elektrische) Orgel mischen sich dank guter Klangregie sogar stimmiger hinein als manchmal im Konzertsaal. Denn natürlich setzt das Staatsorchester nicht nur auf Masse, sondern auch auf Klasse. Strauss können sie halt, zu hören im Mitschnitt unter dem Komponisten selbst aus dem Jahr 1941 ebenso wie in der Gegenwart. Allein der weiche und weite Klang der Hörner bleibt ein Wunder. Jurowski weiß, dass er da nicht allzu viel machen muss, führt sein Orchester in großem Bogen und stimmigen Tempoproportionen auf den Gipfel und wieder zurück in die Stadt. Wo schon am kommenden Wochenende, unter Beteiligung dann auch der anderen Staatsopernensembles, das Unicredit Septemberfest weitergeht. Mit vielen Programmpunkten im Nationaltheater und den Fünf Höfen - als Alternative oder, je nach Geschmack, Ergänzung zum Oktoberfest.