Das Oktoberfest ist ein Fest der Traditionen. Für manche ist es ein Weißwurstfrühstück davor, andere fahren immer Breakdancer nach dem Zeltbesuch. Solche Traditionen machen natürlich Spaß, geben aber auch Halt in einer sich ständig verändernden Welt. So ist auch das Oktoberfest seine eigene kleine Welt, die von einem Jahr aufs andere von der "koidn" zur "Sommerwiesn" wird etwa. Und das große Nichts davor, das heilte für manche Beteiligten, für die Schausteller zum Beispiel, erst jetzt.
Offizielle Traditionen gibt es ebenfalls zuhauf. Einzug, Anstich, Standkonzert in der Mitte, Wunderkerzen zum Schluss. Zur Halbzeit und am Schluss gibt es Zahlen. Aber die Welt dreht sich weiter, und manche Traditionen fallen dabei herunter. War früher die Zahl der verspeisten Ochsen und Hendl ein Indikator für den Appetit der Besucher, wurde sie dieses Jahr im Pressebericht nicht mehr aufgeführt. Tote Tiere wolle man nicht mehr zählen, hieß es. Mysteriös, denn verspeist werden sie auf dem Fest sicherlich trotzdem. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Besucher doch vermehrt zu vegetarischen und veganen Gerichten greifen, oder eben gerade nicht? Möchte die Stadt mit der Zahl einfach keine weiteren Diskussionen schüren, "Wokeness"-Probleme hat das Fest ja nun genug?
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Ist ein Verzicht aufs Zählen nun scheinheilig oder fortschrittlich? Die Welt ist komplizierter geworden. Die Wiesn auch. Eigentlich ist es nur menschlich. Viele Zahlen häufen sich ungewollt an. Es kostet etwas Mühe, sie zu ignorieren, macht das Leben aber leichter. Die Zahl der verspeisten Chips nach einem langen Tag zum Beispiel. Die Tüten von Plastikmüll im Haushalt, seit kleine Kinder darin leben. Die Kilometer, die doch mit dem Auto zurückgelegt wurden statt mit Fahrrad oder Zug, die Zahl der Mahnungen, die unnötig gewesen wären. Alles Zahlen, die das Leben nun auch nicht besser machen, indem sich das schlechte Gewissen darin suhlt. Mittelalte Semester erinnern sich vielleicht an Bridget Jones, die ihre Tagebucheinträge mit ihrem Gewicht und ihren gerauchten Zigaretten begann. Glücklich macht das nicht, schlanker oder Nichtraucherin wurde sie dadurch auch nicht.
Auch über ihren Alkoholkonsum führte die Romanheldin Buch. Die Oktoberfest-Pressestelle hat den Bierkonsum zur Halbzeit nur in Prozent zum Vorjahr angegeben. Da das Vorjahr aber katastrophal schlecht besucht war, ist die Steigerung um sechs Prozent nicht beeindruckend. Soll sie das vielleicht gar nicht sein? Schließlich könnte der Leser auf die Idee kommen, die Wiesn sei ein Sauffest. Wo kämen wir denn da hin?