Oktoberfest:Ein Traditionsfest vor der Nase - aber keine Chance, hinzugehen

Lesezeit: 3 min

Es ist das erste Mal, dass Wirte und Schausteller mehrere Hundert Kinder und Jugendliche auf einmal auf die Wiesn einladen. (Foto: Angelika Warmuth/Reuters)

Viele Kinder und Jugendliche in München waren noch nie auf der Wiesn - das Geld in ihren Familien ist zu knapp. Wirte und Schausteller laden 800 von ihnen ein, zu einem Nachmittag, wie sie ihn sonst wahrscheinlich nicht erleben würden.

Von Kathrin Aldenhoff

Der Siebenjährige sitzt vor dem Fahrgeschäft auf dem Boden, seinen Rucksack hat er abgenommen. Der Junge ist zu klein, um im "Höhenrausch" mitzufahren, dieser riesigen, wilden Variante einer Schiffsschaukel. In den vergangenen drei Stunden war er im Hofbräuzelt zum Nudeln-Essen und Fanta-Trinken, saß auf dem "Teufelsrad", hat in ein Lebkuchenherz gebissen und einen Krapfen geschenkt bekommen. Nun sitzt er da und guckt den anderen Kindern zu, wie sie einsteigen. Es ist sein allererster Tag auf dem Oktoberfest, und wie er da so sitzt, sieht er zufrieden aus. Und erschöpft. Anstrengend, diese Wiesn? Er schüttelt den Kopf. Was ihm am besten gefallen hat? "Alles!"

Der Junge ist mit einer Gruppe von Kindern aus dem Hasenbergl hier, begleitet von ihrem Sozialpädagogen aus dem Kinder- und Jugendtreff. Sie sind eingeladen worden von den Wiesnwirten, Schaustellern und Marktkaufleuten, insgesamt fast 800 Kinder und Jugendliche, zu einem Oktoberfest-Nachmittag mit allem Drum und Dran. Viele von ihnen kennen Münchens Traditionsfest nicht, obwohl sie in dieser Stadt wohnen. Viele leben in Familien, die sich so einen Wiesnbesuch nicht leisten könnten.

Newsletter abonnieren
:München heute

Neues aus München, Freizeit-Tipps und alles, was die Stadt bewegt im kostenlosen Newsletter - von Sonntag bis Freitag. Kostenlos anmelden.

"Wir laden immer wieder Kinder zu den Festen ein", sagt Yvonne Heckl, Sprecherin des Münchner Schaustellerverbands. Dieses Mal eben mehrere Hundert auf einmal. "Wir freuen uns, wenn sie im 'Teufelsrad' einfach mal lachen, ihre Probleme für eine Weile vergessen können." Die Wiesnwirte teilen sich die Kosten für das Essen, die Schausteller spendieren Freifahrten, die Kaufleute Süßigkeiten.

Auf den Tischen im Hofbräuzelt liegen Stofftischdecken mit weiß-blauem Blumenmuster, auf einer Speisekarte stehen mehrere Gerichte und Getränke zur Auswahl. Ein Mann im Clownskostüm knotet Luftballons zu Hündchen. Einige Kinder sitzen schon, die Betreuer verteilen Gutscheine, eine Gruppe steht noch im Gang und wartet. Ein Ordner pfeift sie beiseite - eine Bedienung mit einem Tablett Hendl kommt nicht durch die Kindermenge.

Ein Junge mit Ohrenschützern gegen den Lärm hält die Hand seiner Betreuerin, eine Gruppe Kinder trägt gelbe Warnwesten, andere haben Klebestreifen mit ihrem Namen und zwei Telefonnummern an der Brust. Ein paar Tische weiter schreibt eine Begleiterin "SOS Kinderdorf" auf ein Dutzend gelbe Armbänder - und die Nummer ihres Diensthandys, falls doch ein Kind im Wiesntrubel verloren gehen sollte.

Ein paar Kinder tragen Dirndl oder Lederhose, die Mehrheit kommt in T-Shirt oder Kapuzenpulli. An den Tischen neben ihnen sitzen Gäste in voller Trachtenmontur, riesige Brotzeitbrettl auf den Tischen und Krüge voll Bier. Schon bald tragen die Bedienungen statt Hendl vor allem Nudeln mit Tomatensauce auf ihren Tabletts, schleppen Limo herbei und erklären geduldig, dass die Wiener aus Schweinefleisch gemacht sind.

Zwei Mädchen haben vom Clown ein Luftballonschwert geschenkt bekommen, sie drängen sich durch die Menge von Wiesnwirten und Politikerinnen zu ihren Tischen. Auch Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) ist gekommen, begrüßt einige Kinder. "Nicht jeder kann sich die Wiesn leisten, das ist uns bewusst", sagt sie. Man dürfe das Soziale nicht aus dem Blick verlieren, deshalb sei dieser Nachmittag ein wichtiges Signal der Wiesnwirte und Schausteller.

Sie machen das hier zum ersten Mal, das Sozialreferat hat 170 Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe angeschrieben, Wohngruppen, Mittelschulen, Freizeittreffs. Einrichtungen, von denen sie wissen, dass sie Kinder beherbergen oder betreuen, die in schwierigen Lebenslagen sind, die benachteiligt sind, die Hilfe und Unterstützung brauchen.

Liveblog
:Hochzeitsgeschenk auf dem Oktoberfest vergessen

Im Fundbüro hat sich mittlerweile allerhand angesammelt. Arnold Schwarzenegger dirigiert.

"Diese Kinder haben ein Traditionsfest vor der Nase, aber keine Möglichkeit hinzugehen", sagt eine Sprecherin des Sozialreferats. Auch ein Wiesnbesuch sei eine Form der Teilhabe, am gesellschaftlichen Leben, der Kultur der Stadt. "So erleben die Kinder etwas, das in München Tradition hat, worüber alle reden. Sie können mitreden. Und fühlen sich zugehörig."

Nach dem Essen gehen Kinder und Jugendliche in kleinen Gruppen über die Wiesn; drei Fahrgeschäfte haben sie jeweils auf ihrer Liste. Zwei Mädchen bestaunen die Kuscheltiere an den Schießständen, "das will ich haben, und das!". Sie sind mit einer Gruppe von zwölf Kindern und Jugendlichen aus einer Mittagsbetreuung in Sendling und zwei Erwachsenen unterwegs, ihr Ziel: das "Teufelsrad". Kreischen, jauchzen, ein Junge erzählt atemlos: "Als sich das gedreht hat, hab' ich mich gefühlt, als ob mein Herz gleich rausspringt!" Dann stürmen alle los, sie haben einen Tiktoker entdeckt, machen ein Selfie mit ihm, strahlen.

Sie laufen vorbei an Buden, in denen die Bio-Johannisbeer-Schorle 5,50 Euro kostet, der bunte Luftballon zehn Euro. An einem Stand bekommen alle ein Lebkuchenherz geschenkt. Ein Mädchen, zwölf Jahre, reißt das Plastik auf, beißt rein, in ihr erstes Lebkuchenherz überhaupt. Daumen hoch, "schmeckt super". Nächster Stopp: "Höhenrausch". Ein Mädchen guckt nach oben und meint: "Ich glaub', da stirbt man." Nein, sagt ihre Freundin, wenn man da sterben würde, dann würde es das Fahrgeschäft nicht geben. Elf Kinder stürmen hinein, 66 Euro würde das jetzt kosten. "Das war geil", kreischt ein Kind danach, ein paar anderen ist übel. Das nächste Mal, so viel haben sie heute gelernt, fahren sie erst Achterbahn. Und essen dann ihr Lebkuchenherz.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusOktoberfest
:Warum man die Wiesn nur lieben - oder abgrundtief hassen kann

Ein Dazwischen gibt es fast nicht: Wieso das Oktoberfest in München wie nichts anderes polarisiert - und was das über die Menschen dieser Stadt aussagt.

Ein Essay von Franz Kotteder

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: