Ein einzelner Stuhl auf leerer Bühne. Boris Nikitin setzt sich darauf, blinzelt ins Gegenlicht und macht sich an seinen Papierstapel. Wie sein weit gereister "Versuch über das Sterben" ist auch das neue Stück des Schweizer Autors und Regisseurs formal eine Lesung und dem Inhalt nach zu etwa gleichen Teilen tastende Selbstvergewisserung und Öffnung eines gemeinsamen Reflexionsraums. "Magda Toffler. Versuch über das Schweigen" heißt es und kam am Freitag am Staatstheater Nürnberg zur Premiere. Dort hat Nikitin zuletzt in dem zu den Mülheimer Theatertagen eingeladenen "Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder" über die Geburtsstunde des Deutschen Reality-TV und die Omnipräsenz der Selbstinszenierung nachgedacht und dafür passender Weise das ganz große szenische Geschütz aufgefahren. Und die jetzige Einladung ans Publikum, mit seinen Gedankenbewegungen mitzuschwingen, ist in ihrer Intimität ebenso konsequent, zumal der Autor-Regisseur auch als Performer alles weglässt, was emotionale oder historische Authentizität beglaubigen könnte, ergo: Wahrheit behaupten.
Das Misstrauen gegen jede Form des Dokumentartheaters, "das den Anspruch hat, Realität darzustellen" und diese dabei unvermeidlich verzerrt, prägte bereits Nikitins frühe Stücke "Sei nicht du selbst!" (2013) oder "Imitation of Life". Als er letzteres 1990 inszenierte, erfuhr der Sohn einer Slowakin und eines ukrainisch-französischen Vaters mit russischen Wurzeln vom Tod seiner Großmutter mütterlicherseits. Kurz darauf erhielt er einen Brief von deren Cousine, die ihm offenbarte, dass er zudem Jude sei. Diesem Identitätsgewitter, vor allem aber dem selektiven Schweigen seiner Großmutter Magda Toffler über ihre jüdische Herkunft, widmet sich Nikitins aktueller "Versuch". Der Frage, welche Scham, welche Schmerzen und Ängste dieses Schweigen erzeugt haben, und wie das Nicht-Gesagte generell die Geschichten mitformt, die überleben. In diesem Fall über den Zweiten Weltkrieg, das Sterben im Konzentrationslager und die Zeit danach.
Der Zweifel am Dokumentarischen bekommt hier neue Nahrung. Und er ist selbst immer Thema dieses sich in Schleifen voranbewegenden Erzählgespinsts. Nikitin hat viele scheinbar unwichtige Details darin eingesponnen - die Beschaffenheit der Haut seiner Großmutter, die Form der Stirn seiner Cousine, Stimmen, Augen - macht sie aber stets als subjektive "Wahrheit" kenntlich. Sein Theater legt den Finger auf die Unschärfen, Gedächtnisaussetzer und andere Lücken. So weisen auch die jungen Protagonisten in seinem gemeinsam mit Sebastian Nübling inszenierten Baseler Publikumsrenner "Dämonen" zuallererst auf den zeitlichen Gap von zwölf Sekunden hin, die ihr von der Live-Kamera verfolgter Trip durch die Stadt den Zuschauern im Saal vorauseilt.
Nikitins Abende sind Abstandsmesser und Tiefenbohrungen zugleich, die das Gerät im Privaten ansetzen, um anderswo hinzugelangen. Sein Bohrversuch im familiären Schweigen wird jedoch gleich historisch gerahmt: Als Heinrich Himmler im Oktober 1943 im Posener Hotel Ostland alle Gauleiter um sich versammelte und seinen Plan zur vollständigen Vernichtung der europäischen Juden verkündete, dokumentierten zwei Phonografen nicht nur die Ungeheuerlichkeit dieser Rede, sondern auch den ausbleibenden Widerspruch. Nikitin imaginiert das stumme Abwarten der Anwesenden, ob jemand die Stille durchbrechen würde und stellt fest: "Die Phonografen zeichnen die Lücke zwischen den Worten nicht nur auf, sie stellen sie her ... Weil niemand einen anderen etwas sagen hört, sagt niemand etwas." In dieser scheinbaren Tautologie fängt er die manipulative Macht von Überwachungsstaaten, Dokumentationstechnologien und Kollektiven ein.
Das Wegschauen, wenn Nachbarhäuser und -länder brennen, diverse Formen der inneren Emigration, "der Rückzug ins Private" sind alles Varianten des von ihnen erzeugten und von uns nicht gebrochenen Schweigens, flüstert einem der Subtext dieses kleinen, aber anregenden Abends zu, dem man viele Zuschauer wünscht.