Munitionsfund in der Bayernkaserne:Flucht aus der Sperrzone

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Weil auf dem Gelände der Bayernkaserne Weltkriegs-Munition gefunden wurde, müssen fast 150 Flüchtlinge in kürzester Zeit umziehen. Für sie brechen chaotische Tage an.

Von Anna Hoben

Um fünf Uhr ist Mohammed Rezai aufgestanden, um pünktlich in der Schule zu sein. Der Zehnjährige zählt auf: S-Bahn ist er erst gefahren, dann U-Bahn und dann noch Bus. Zum Glück hat ihn sein Vater begleitet, allein hätte er sich das nicht zugetraut. "Vielleicht verliere ich den Weg", sagt er, "ich habe ihn noch nicht auswendig gelernt." Vergangene Woche am Donnerstagnachmittag hatten Mohammed Rezai und seine Familie erfahren, dass sie ihre Unterkunft in der Bayernkaserne in Freimann räumen müssen - bis zum nächsten Morgen um neun Uhr. Ihre Heimat auf Zeit ist nun ein Heim im Stadtteil Fasanerie, sieben Kilometer entfernt.

Das Ausmaß eines Munitionsfundes auf einer Baustelle auf dem Gelände der Bayernkaserne hatte sich als größer herausgestellt als zunächst angenommen. Mehrere Wochen lang werden die Überreste aus dem Zweiten Weltkrieg nun jeden Mittwoch und Sonntag geräumt und kontrolliert gesprengt. Der städtische Kälteschutz, der sich im selben Gebäude befindet wie die Flüchtlingsunterkunft, bleibt weiterhin geöffnet; die Bettenplätze müssen am Morgen, wenn die Räumungsarbeiten beginnen, ohnehin verlassen sein.

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Um die Bayernkaserne herum sind nur wenige Anwohner von der Sperrzone betroffen, die das Kreisverwaltungsreferat nun mittwochs und sonntags von acht bis 17 Uhr einrichtet. Betroffen sind jedoch fast 150 Flüchtlinge, die vor die vollendete Tatsache gestellt wurden, dass sie für die Dauer der Arbeiten umziehen müssen: Menschen aus Afghanistan und Syrien, Eritrea, Nigeria und Senegal. Einige alleinstehende Männer, vor allem aber viele Familien.

Die meisten hat das Sozialreferat, das für den Umzug zuständig ist, in anderen Häusern auf dem Gelände der Bayernkaserne untergebracht. Die Männer kamen in eine Unterkunft an der Hofmannstraße in Obersendling. Fünf Familien, alle mit je drei Schul- und Kindergartenkindern, mussten in ein Heim am Tollkirschenweg in der Fasanerie ziehen, in dem ansonsten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnen. Unter diesen fünf Familien ist auch die von Mohammed Razai.

"Traurig" seien seine Eltern gewesen, sagt der Junge, als sie erfuhren, dass sie umziehen müssen; er und all die anderen Kinder und einige Erwachsene hatten sich am Abend im Eingangsbereich versammelt. Doch für Traurigkeit war kein Platz und keine Zeit, denn sie mussten rasch die wichtigsten Sachen zusammenpacken.

Christl Quaas ist eine der Ehrenamtlichen, die den Bewohnern in der Bayernkaserne helfen, unermüdlich, bereits seit 2015. Sie hat den Flüchtlingen, die sie liebevoll "meine Leute" nennt, die Situation erklärt, wieder und wieder. Sie hat beim Packen geholfen, die Bilder auf ihrem Handy zeigen einen Haufen Müllsäcke, in die sie auf die Schnelle Kleidung, Hausrat und Lebensmittel verstaut haben. "Viele haben ja keine Koffer."

Am Freitag vergangener Woche kam sie wieder, um die Sachen mit dem Auto abzuholen. "Bestimmt 30 Mal" sei sie hin und her gefahren, sagt Christl Quaas, man könne es den Frauen, viele von ihnen mit kleinen Kindern, manche schwanger, doch nicht zumuten, ihre Sachen umherzuschleppen. Ein Pakistaner, der eine Ausbildung als Busfahrer macht, sei ebenfalls als Helfer eingesprungen. Für die Familien und Männer, die in andere Stadtteile umziehen mussten, organisierte das Sozialreferat Busse.

Weil die Bewohner so kurzfristig an einem normalen Arbeitstag unter der Woche das Haus verlassen mussten, ist Christl Quaas auch auf andere Weise tätig geworden: Diejenigen, die einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle haben, hat sie bei ihren Arbeitgebern oder bei der Berufsschule entschuldigt. Ein bisschen so wie eine Mutter, die ihren Kindern eine Entschuldigung für die Schule schreibt. "Die hatten selber gar keinen Kopf dafür", sagt Quaas.

Zum Beispiel Lucky John, 37, aus Nigeria. In seiner Heimat hat er auf dem Bau gearbeitet, nun macht er eine Ausbildung zum Koch, weil Koch in Deutschland ein Mangelberuf ist. Im Georgenhof lernt er, wie man Schweinebraten zubereitet. Zum Glück habe der Chef schon von der Situation in der Bayernkaserne gehört und Verständnis gehabt, sagt Lucky John. So konnte er den Tag freinehmen und mit seiner Frau Rosalie und den drei Mädchen im Alter von zwei, vier und sechs Jahren umziehen.

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Wäre die Stadt mit den Bewohnern auch so umgesprungen, wenn es sich nicht um Flüchtlinge gehandelt hätte? Christl Quaas bezweifelt das. Sie hatte vorgeschlagen, die Bewohner an den Räumungstagen tagsüber etwa in einer Turnhalle unterzubringen, so hätten sie abends zum Kochen und Schlafen in ihre Unterkunft zurückkehren können. Das könne man den Menschen nicht zumuten, hatte das Sozialreferat entgegnet. Ob eine dauerhafte Räumung nun notwendig war oder nicht - Christl Quaas hätte sich auf jeden Fall eine bessere Kommunikation und mehr Unterstützung von Seiten der Stadt gewünscht.

Wie sollen die Kinder die kommenden Wochen zu ihren Schulen und Kindergärten kommen? Wer kommt für die Fahrkarten auf? Und wie sollen die Kinder ihre Mittagspause verbringen? Wo können sie günstig einkaufen? Diese Fragen stellte Quaas im Vorfeld; nicht auf alle gab es Antworten. Den Weg zur Schule haben die Familien mithilfe der Netzpläne irgendwie herausgefunden, Wlan gibt es in der neuen Unterkunft nicht. Das Geld für die Fahrkarten haben sie vorgestreckt und hoffen, die Kosten dann erstattet zu bekommen.

Zwischen Vormittags- und Nachmittagsunterricht sei er am Montag einfach um die Schule herumgelaufen, sagt Mohammed Rezai - was hätte er sonst tun sollen? In der Bayernkaserne gab es für die Kinder nachmittags eine Hausaufgabenbetreuung, die vermissen sie jetzt. Dafür sollen künftig einmal pro Woche Sozialarbeiter in die neue Unterkunft kommen, sagt Christl Quaas. Um die Bayernkaserne herum gab es mit mehreren Discountern günstige Einkaufsmöglichkeiten; an der neuen Adresse gebe es nur einen teuren Supermarkt, klagen die Familien. Tags zuvor hätten sie die Nachbarn nach einem Aldi oder Lidl gefragt, erzählen Mobina und Yalda, beide 14 - und erfahren, dass die nächsten Filialen mehrere Kilometer entfernt seien.

Eigentlich wollen sie alle nicht klagen. Jede Familie hat zwei Zimmer bekommen, die Unterkunft gefällt ihnen, es ist hell und freundlich und sauber. Die vergangenen Tage sind ein bisschen chaotisch gewesen, aber sie werden sich zurechtfinden. Auch Christl Quaas sagt mittlerweile, sie sei ja froh, dass ihre Leute nun hier wohnen könnten und nicht noch weiter weg ziehen mussten. Dann muss sie los, noch mal in die Bayernkaserne, Vorbereitungen treffen für das Frauencafé, das sie leitet. Lucky John fährt mit, er hat bei dem überstürzten Aufbruch ein paar Dinge in seinem Zimmer vergessen: einen Gürtel und seine Uhr. Die ist wichtig - er will ja am nächsten Tag wieder pünktlich in der Arbeit sein.

© SZ vom 02.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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