Münchner Kammerspiele:Unter dem Mantel des Schweigens

Lesezeit: 3 min

Walter Hess war schon im ersten Teil von Anne Habermehls Trilogie dabei, jetzt auch in "Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw". (Foto: Judith Buss)

Anne Habermehl inszeniert ihr neues Stück "Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw" im Werkraum der Kammerspiele - und erzählt dabei von deutschen Verbindungen in die Ukraine.

Von Yvonne Poppek

Wie lässt sich als deutsche Autorin oder als deutscher Autor derzeit ein Stück zur Ukraine schreiben? Spätestens nach dem 24. Februar 2022 scheint das fast unmöglich zu sein. Den Vortritt haben derzeit zu Recht starke ukrainische Stimmen auf deutschen Bühnen. Natalka Vorozhbyts "Green Corridors" an den Kammerspielen gehört zum Beispiel dazu, ein herausragender Abend. Am selben Haus wird es nun - neben der ukrainisch-russischen Produktion "Xata" - ein weiteres Stück mit Bezug zur Ukraine geben. Und zwar überraschend: aus deutscher Perspektive.

Die Geschichte zu dieser Inszenierung mit dem Titel "Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw" beginnt allerdings nicht erst 2022. Ein Stück mit Verbindung zur Ukraine zu schreiben, schwebte der Autorin und Regisseurin Anne Habermehl schon lange vor. Vor etwa fünf Jahren hatte sie mit den Recherchen begonnen, wollte in das osteuropäische Land reisen, erzählt sie. Und scheiterte.

Zuerst kam die Pandemie, verhinderte einen Aufenthalt. Dann habe sie ein Ticket gehabt mit Abflugdatum 25. Februar 2022, sagt Habermehl. Dass sie diesen Flug einen Tag nach Ausbruch des Krieges nicht antreten konnte, muss nicht weiter erklärt werden. Projekt also abbrechen? Anne Habermehl entschied sich dagegen, spürte, dass sie in dieser hoch erhitzen Situation das Thema aufgreifen muss. Am kommenden Freitag hat "Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw" im Werkraum der Kammerspiele nun Premiere. Es ist ein Abend über viele Leerstellen.

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Dabei ist es ist spannend zu sehen, was Habermehl gemacht hat: Sie schreibt, wie sie selbst sagt, "aus unserer Perspektive" - und die bedeutet, "keine Ahnung von der Ukraine zu haben". Das ist sehr zugespitzt formuliert. Ihr Stück ist eher eine sehr ehrliche Befragung: Was wissen wir nicht, was könnten wir wissen und was hätten wir längst wissen sollen? Elegant erzählt sie das anhand von zwei Vater-Mutter-Kind-Konstellationen, angesiedelt in zwei verschiedenen Zeiten.

"Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw" ist der zweite Teil einer Trilogie. Der erste - der eigentlich schon von der Ukraine handeln sollte - erschien 2021 mit dem Titel "Frau Schmidt fährt über die Oder". Wie bei Teil zwei übernahm Habermehl die Einrichtung der Uraufführung selbst. In dem Stück geht es um die Spätaussiedlerin Susanne, die vom Osten in den Westen kommt, voller Utopien, die der Realität nicht standhalten können.

Bei "Frau Schmidt fährt über die Oder" führte Anne Habermehl selbst Regie. Das macht sie nun auch im zweiten Teil ihrer Trilogie. (Foto: Julian Baumann)

Der zweite, jetzt erscheinende Teil der Trilogie spielt in zwei Zeitabschnitten, einmal von 1944 bis 1955, einmal von 1999 bis 2022, Handlungsort ist Mannheim. Die Zeit in und nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt von einer Familie Schmidt: Der Vater war als Ingenieur in der Ukraine, schweigt über das Erlebte, über die Verbrechen und auch über den Sohn, den er dort gezeugt hat. Jahrzehnte später sind es ebenfalls Schmidts, die ihre Fühler in die Ukraine ausstrecken - und zwar, um auf nicht legalisiertem Weg ein Kind zu adoptieren, was ihnen gelingt. Auch über diese Vorgänge und deren Bedeutung wird geschwiegen.

Schmidt, sagt Habermehl, das sei für sie der deutsche Nachname schlechthin. Beide Familien stehen also für kollektive Schicksale. "Ich habe nach Verbindungen zur Ukraine gesucht, die nicht mit dem aktuellen Krieg zu tun haben, aber auch dunkle Stellen sind", sagt sie. Das Schweigen über das Kriegsgeschehen und die -verbrechen der Deutschen in der Ukraine sei eine solche Stelle. Zugleich ist es Teil ihrer eigenen Familienbiografie, sagt die 1981 geborene Autorin, ihr Großvater sei als Ingenieur in der Ukraine gewesen. Was dort geschehen ist, wisse man nicht.

Solche Leerstellen seien generell nicht aufgearbeitet, bedürften eines genaueren Hinsehens, glaubt Habermehl. Bei ihren Recherchen sei sie zudem auf einen anderen dunklen Punkt gestoßen, auf den eklatanten Anstieg von Adoptionen von Kindern aus Osteuropa nach dem Fall der Mauer. Hier setzt der andere Teil ihres Dramas an. "Geschichte ist kein abstraktes Ding, sie ist die Summe von Entscheidungen", sagt sie. Dies macht sie in ihrem neuen Stück spürbar, das sie mit Johanna Eiworth, Walter Hess, Frangiskos Kakoulakis und Edmund Telgenkämper auf die Bühne bringt.

"Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw" , Premiere: Freitag, 24. November, 19.30 Uhr, Werkraum, www.muenchner-kammerspiele.de

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