Theater:Grenzläufe der Erinnerungen

Lesezeit: 2 min

Anne Habermehl inszeniert an den Münchner Kammerspielen "Frau Schmidt fährt über die Oder": eine Spurensuche, die ins Schlesien des Zweiten Weltkriegs führt.

Von Egbert Tholl

Kurz vor ihrem Tod bekommt Susanne noch einmal Besuch vom Pfarrer. Er hat ein Fläschchen Schnaps dabei, "bis oben gefüllt mit Selbstmitleid", sie raucht. So viel, dass sie eine Räumungsklage am Hals hat. Und gesund ist das auch nicht. Aber: "Es wurde in diesem Land exzessiv viel Rauch in die Luft geblasen. Das haben die Körper auch nicht gepackt." Einen Schluck aus des Pfarrers Flasche will sie nicht, sie rast ohnehin schon, im Inneren, das die Schauspielerin Johanna Eiworth nach außen stülpt, das Innere einer zerrissenen, todunglücklichen, in viele Richtungen zersplitternden Frau.

Anne Habermehl hat für die Münchner Kammerspiele den ersten Teil einer Trilogie geschrieben und diesen, was sie oft macht, selbst inszeniert, im Werkraum. "Frau Schmidt fährt über die Oder", so der Titel, klingt ein bisschen nach Kaffeefahrt, aber das trügt. Die Oder markiert nicht nur die Grenze zwischen zwei Ländern, sondern auch die zwischen Zeiten, Völkern, Menschen. Anne Habermehl erzählt von drei Generationen, von Opa, Mama Susanne, geboren 1959, Tochter Annemarie, geboren 1990. Dazu kommt Micha (Frangiskos Kakoulakis), ein in allen Zeitebenen auftauchendes Wesen, mal als polnischer Arbeiter 1944, mal als ein Jugendlicher, der scheu und tapsend die Gunst der jungen Annemarie zu gewinnen sucht.

Es ist ein Text der Spurensuche und der Mutmaßungen, bei dem vieles vage bleibt. Anne Habermehl legt den Figuren stammelnde Unsicherheit in den Mund, einige Kalauer - "die einzige Gemeinsamkeit hier ist die Einsamkeit" -, erfindet Monologe, die teils eigentlich Dialoge sind oder umgekehrt, sie stolpert so zwischen den Zeiten umher, dass man manches gerne klarer hätte, was Habermehl aber tunlichst vermeidet.

Die Mutter und auch ein bisschen die Tochter sind Unbehauste zwischen zwei Welten, hinter denen die dunkle Wand des Holocausts steht

Doch: Aus dem Raunen entsteht immer wieder eine eigentümliche, menschliche Wahrheit, der man sich nicht entziehen kann, schon gar nicht dann, wenn man selbst einen Vater hatte, der lange noch vom einstigen Besitz in Schlesien träumte und in seinen letzten Lebensjahren von einer Polin und einem Polen betreut wurde. Wenn hier der Opa, der so wundervolle Walter Hess, der auch den Pfarrer und einen Arzt spielt, mit dem zögerlichen Zusammenbauen der eigenen Erinnerungen versucht, die Frage der Enkeltochter zu beantworten, was denn damals los war, 1944, als die Nazis die polnischen Arbeiter ermordeten, dann kommt einen der eigene Vater in den Sinn, obwohl der nie so etwas erlebte. Soweit man das weiß.

Ist schon seltsam: Während der Kritiker dies schreibt, liest er in der Zeitung, dass Polen aus der EU drängt, gleichzeitig spürt er Habermehls grenzüberschreitenden Lebenslinien nach. 1945 wurde die Familie vom Hof bei Breslau (heute Wrocław) verjagt, was danach passierte, weiß man nicht. Dann kam Susanne in Polen zur Welt, irgendwie gab es später einen Piotr in ihrem Leben, 1990, die Grenze ist auf, geht sie in den Westen, landet in Marktredwitz, die Tochter kommt zur Welt. Die Mutter arbeitet als Pflegekraft, die Tochter wird Fotografin, vielleicht auch, weil die vieltausend Fotos, die die Mutter mit sich herumschleppt, für sie keine Wahrheit haben und sie sich selbst eine erschaffen muss.

Die Mutter und auch ein bisschen die Tochter sind Unbehauste zwischen zwei Welten, hinter denen die dunkle Wand des Holocausts steht. Unbehaust bleiben sie auch auf der kubistischen, mintgrünen Bühne - die gleiche Farbe hat Michas Anzug, er verschwindet vor dem Interieur. Anne Habermehls eigene Inszenierung bleibt kühl, sezierend, klinisch, auch ein wenig linkisch, aber es strahlt darin die offene Neugierde von Anna Gesa-Raija Lappe. Sie spielt die Annemarie, aber auch deren Mutter in jüngeren Jahren. Sie verkörpert auch ein Prinzip Hoffnung, und wenn sie es dereinst mal schafft, über die Oder zu reisen, wird sie das Land jenseits, dieses Polen, das nicht mehr Europa sein will, ganz anders wahrnehmen, als es ihre Mutter und ihr Opa je konnten.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Theater in Zeiten von Immer-noch-Corona
:Die Angst schaut mit

2 G, 3 G und 3 G plus: Wie das Publikum auf die verwirrenden Hygienekonzepte im Theater reagiert.

Von Christine Dössel

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: