Theater in Zeiten von Immer-noch-Corona:Die Angst schaut mit

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Und plötzlich ging es wieder, 1800 Gäste ohne Maske in einem Raum: Eröffnung der Isarphilharmonie in München. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

2 G, 3 G und 3 G plus: Wie das Publikum auf die verwirrenden Hygienekonzepte im Theater reagiert.

Von Christine Dössel

Wie geht die Rechnung am besten auf: mit 2 G, 3 G oder 3 G plus? Was nach höherer Mathematik klingt (und es letztlich auch ist), ist derzeit in den Theatern die große Frage. Ein Rechenergebnis gibt es noch nicht. Die Regeln sind von Bundesland zu Bundesland verschieden, und ihre Umsetzung differiert von Haus zu Haus derart, dass längst keiner mehr durchblickt.

An der Berliner Schaubühne, nur zum Beispiel, darf mit 3 G (geimpft, genesen oder negativ getestet) und Maskenpflicht wieder voll besetzt werden, es gibt ein eigenes Wegeleitesystem, und nach Ende der Vorstellung werden Zuschauerreihen separat zum Check-out aufgerufen wie im Flugzeug. Das Hamburger Schauspielhaus praktiziert ebenfalls 3 G mit Maske, jedoch mit "Schachbrett"-Bestuhlung, es gibt aber auch einzelne Vorstellungen mit 2 G (für Geimpfte und Genesene), dann maskenlos und mit voller Besetzung. Am Schauspielhaus Bochum darf man, wie auch in Köln (3 G und Schachbrett), am Platz die Maske abnehmen. Nicht aber in Düsseldorf. Und am Staatsschauspiel Dresden? Ach, schauen Sie doch auf der Homepage nach.

Es herrscht auch deshalb höchste Verwirrung, weil die "Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen" - in dem Wort steckt der Bandwurm drin! - sich ständig ändern. Nehmen wir Bayern: Laut Kabinettsbeschluss haben Bühnen und andere Veranstalter seit einer Woche die Option, beim Einlass die 2-G- oder 3-G-plus-Regel anzuwenden (plus bedeutet, dass nur noch ein höchstens 48 Stunden alter PCR-Test akzeptiert wird, keiner aus der Drogerie). Dann fallen Obergrenzen und Abstandsgebot weg, niemand muss Maske tragen. Sekt im Foyer und Partys nach Premieren gehen auch wieder. In Häusern mit mehr als 1000 Plätzen war der Alkoholausschank bislang komplett verboten.

Bei der Eröffnung der Münchner Isarphilharmonie am vergangenen Wochenende drängten sich plötzlich 1800 maskenlose 3-G-plus-Menschen mit Drinks, als sei nie etwas gewesen. Manchem wurde vielleicht ein wenig mulmig, sie ist ja nicht vorbei, die Pandemie. Viele aber juchzten: Fast wieder wie vorher! Das Nachsehen haben Nichtgeimpfte. Sie müssen für PCR-Tests zwischen 70 und 130 Euro bezahlen, seit Montag sind die Tests kostenpflichtig. Da wird der Theaterbesuch ein teures Vergnügen.

Den Veranstaltern in Bayern bleibt es selbst überlassen, ob sie weiterhin 3 G anwenden und dafür Beschränkungen in Kauf nehmen, oder ob sie umstellen auf 2 G oder 3 G plus mit wieder mehr Normalität. Am Staatstheater Nürnberg führte Intendant Jens-Daniel Herzog sofort 3 G plus ein. Viele Besucher hätten die Maskenpflicht am Sitzplatz und den verbotenen Barbetrieb in den Pausen als störend empfunden, heißt es aus dem Haus. Man wolle wieder Theater als "Gesamterlebnis" bieten. Die Einlasskontrolle erfolgt, wie inzwischen in vielen Häusern, kontaktlos mit Ticket-Scannern. Die können auch digitale Nachweise mit Hilfe von QR-Codes schnell erfassen.

Die Münchner Staatsoper unter der neuen Intendanz von Serge Dorny hält sich noch zurück. Dort bleibt man unter dem Motto "G'sund bleiben" vorerst bei 3 G und Maskenpflicht, will "erst mal die Stimmung im Publikum abklopfen", so der Sprecher Michael Wuerges. Zu diesem Zweck startete die Oper am Montag eine Publikumsumfrage. Weil es nämlich durchaus sein könnte, dass die Besucher in einem Haus mit 2101 Sitzplätzen lieber mehr Sicherheit möchten und dafür Masken und Alkoholverbot billigen. Am Opernhaus Zürich gab es bereits eine solche Erhebung. Das Ergebnis: 53,7 Prozent der Teilnehmenden beurteilten die Maskenpflicht positiv (wiewohl sie größtenteils, zu 91,4 Prozent, geimpft oder genesen sind); nur 29,4 Prozent lehnten sie ab. Weshalb die Masken in Zürich aufbehalten werden.

"Am wichtigsten ist uns, dass die Zuschauer sich wohl und sicher fühlen."

Auch in München, wo die Oper seit 1. September wieder voll belegt sein darf, hofft man auf belastbare Zahlen. "Am wichtigsten ist uns, dass die Zuschauer sich wohl und sicher fühlen", sagt Wuerges. Und vielleicht könne man durch die Umfrage erfahren, warum sie teils noch wegbleiben. "Wir sind gut besucht, jedoch nicht ausverkauft." So leicht wie jetzt kommt man selten an Karten, das Publikum sei "noch zögerlich", so die Formulierung, auf die sich die Intendanten landauf, landab geeinigt zu haben scheinen. Viele sehen in der Maske den Grund allen Übels.

Eines der maroden Kulturgebäude, das in absehbarer Zeit saniert werden soll, ist das Residenztheater. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Ingrid Trobitz, die stellvertretende Intendantin des Münchner Residenztheaters ("Resi"), berichtet von Mails und Anrufen, in denen sich Zuschauer genau darüber beschweren. Die nicht einsehen, warum sie geimpft mit Mundschutz im Theater sitzen müssen; noch dazu in fünf- bis sechsstündigen Aufführungen wie Simon Stones "Unsere Zeit" oder Judith Herzbergs Trilogie "Die Träume der Abwesenden". Und die womöglich genau deswegen wegbleiben (denn voll waren diese Vorstellungen, angeboten im freien Verkauf, noch bei Weitem nicht). Das Resi wird am Freitag auf 3 G plus umstellen. Ab November wird es auch wieder Abo-Vorstellungen geben. Und 2 G? Komme als Option nicht infrage: "Wir wollen die Testmöglichkeit nicht grundsätzlich ausschließen."

"In der Umsetzung bedeutet 3 G plus doch sowieso 2 G, so teuer, wie die PCR-Tests sind", ächzt Barbara Mundel, die Intendantin der Münchner Kammerspiele, die ob ständig neuer "Hygienedingsbums" etwas gestresst wirkt. In München hat die Spielzeit erst Mitte September begonnen. Kurz zuvor, Anfang September, kam von Bayerns Staatsregierung die Vorgabe: volle Besetzung bei 3 G. Einen Monat später nun plötzlich die Option 3 G plus. "Theoretisch freut man sich drüber, aber nur theoretisch", sagt Mundel, "in der Praxis ist es kompliziert." Sie haben ja zum Beispiel schon Karten zu 3-G-Bedingungen verkauft. Da ist Ärger programmiert. Und wenn man 3 G plus macht, muss auch das Personal die Auflagen erfüllen.

Bühnen, die völlig neu starten, können sofort und problemlos auf 3 G plus übergehen, wie die Isarphilharmonie oder das Münchner Volkstheater, das am Freitag seinen Neubau einweiht. In gewisser Weise üben diese Häuser sozialen Druck auf andere Bühnen aus - Mundel will an den Kammerspielen dennoch erst Ende Oktober umstellen. Sie sagt: "Ich würde gerne mal durchatmen und gucken, wie es dem Publikum mit all dem geht und was es will."

Überall die gleiche Frage: Was wollen und fürchten denn nun eigentlich die Zuschauer? Das Theaterpublikum, davon kann ausgegangen werden, ist zum größten Teil geimpft. Es gibt beim Stichproben-Anruf bei Intendantinnen und Intendanten niemanden, der das nicht in Bezug auf sein "Stammpublikum" bekräftigen würde. Sonja Anders (Schauspiel Hannover) spricht von 90 Prozent, Joachim Lux (Thalia-Theater Hamburg) von "mal zehn, mal 15 Nichtgeimpften pro Abend", Barbara Mundel nennt als Erkenntnis aus den bisherigen Kassen-Informationen: "Wenn welche noch nicht geimpft sind, dann sind das junge Menschen, zwischen fünf und zehn Prozent."

Ulrich Khuon geht davon aus, dass bis zu 15 Prozent der 70- und 80-Jährigen nicht mehr zurückkehren werden

Gerade die älteren Geimpften scheinen unter den "Zögerlichen" die größte Gruppe zu stellen. Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters Berlin (DT), spricht von einem "gefühlten Viertel" der Zuschauer, das noch abwartet. Ob das an der Maskenpflicht, den sinnlichen Einschränkungen beim Gesamtpaket "Theaterbesuch", an Verunsicherung oder echter Ansteckungsangst trotz Impfung liegt, ist unklar. Khuon, der als ehemaliger Präsident des Deutschen Bühnenvereins die Gesamttheaterlage gut im Blick hat, geht davon aus, dass ein Teil vor allem der über 70- und 80-Jährigen nicht mehr zurückkehren wird. Er erwartet einen Einbruch von zehn bis fünfzehn Prozent. Alarm schlägt er deswegen nicht: "Das wird eine Anstrengung werden, aber keine Horrorerfahrung. Es kann auch lustvoll sein, sich neu auszuprobieren und Zuschauer zu gewinnen."

"Das wird eine Anstrengung werden, aber keine Horrorerfahrung": Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters Berlin, sieht trotz Publikumsverlusten zuversichtlich in die Zukunft. (Foto: Paul Zinken/dpa)

Das findet auch Wilfried Schulz, Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, das vom Publikum ebenfalls "nicht überrannt" wird. Aber Schulz spricht von einer großen "Zugewandtheit und Wärme", er verwendet sogar das Wort "Zärtlichkeit". Schulz sagt, ihm persönlich gefalle das sehr gut, "dieses Suchen des Gegenübers". Die Auflage, Maske zu tragen, ist für ihn zur Gewährleistung höherer Sicherheit auch bei Schachbrett-Besetzung unerlässlich. Er verstehe auch nicht die Diskussionen: Sein Sohn sitze in jeder Schulstunde mit Maske.

Andreas Beck, den Intendanten des Münchner Residenztheaters, regt die Frage nach Zuschauerzahlen auf. "Natürlich läuft es nicht wie Bolle - aber wie auch?" Seine Devise: "Bei sich bleiben, gute Arbeit machen und nicht gleich wieder in Selbstzerfleischung verfallen! Ich denke, wir müssen uns jetzt alle mal ein halbes Jahr Zeit geben." Zum einen laufe die Spielzeit nach den Sommerferien auch in normalen Zeiten schleppend an, in München zum Beispiel wegen der Wiesn. Zum anderen müssten sich Lockdown-Geschädigte erst wieder in eine Routine des Miteinanders einüben: "Wir sind auch geistig zu Couch-Potatoes geworden, nicht nur körperlich. Wir müssen erst wieder fit werden." Fit auch fürs Theater.

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Burkhard C. Kosminski, Intendant am Schauspiel Stuttgart, berichtet von "hohen Aboverlusten" an seinem Haus. In Panik ist er aber nicht: "Jetzt, wo sich das Leben wieder öffnet, haben manche noch Ängste. Ich glaube, es wird ein Jahr dauern, da wieder Normalität reinzubekommen." Er macht jetzt eine große Abo-Kampagne, entwickelt einen Kulturpass, macht Hausbesuche: "Nahkampf eben." Und was die Inhalte betrifft, setzt er auf die "großen Themen der Gegenwart". Kosminski findet, man sollte jetzt kein Corona-Rückblick-oder Corona-Sondertheater machen.

"Wenn Menschen zusammenkommen, muss man mit Wundern rechnen."

"Die Pest" muss man jetzt nicht spielen, da sind sich alle einig. Sonja Anders bekommt am Schauspiel Hannover die Rückmeldung, dass ihr Publikum vor allem Komödien und musikalische Stoffe sehen will. "Der eingebildete Kranke" sei ausverkauft, "weil er so lustig ist", Stücke wie die "Klimatrilogie" tun sich schwer. Ihr als Theatermacherin gehe es genau andersrum: Durch die Pandemie seien große, wichtige Themen zu kurz gekommen, Klima, Afghanistan, Frauenfragen. Das seien Stoffe, die jetzt auf die Bühne müssten.

"Dringlichkeit" fordert DT-Intendant Ulrich Khuon ein. Das Theater müsse transzendentale Fragen stellen. Fragen nach der Schöpfung. Nach der Empathiefähigkeit und Selbstermächtigung des Menschen, "der in den Neunzigern noch dachte, er könne den Himmel auf der Erde neu erschaffen". Es wundert ihn nicht, dass es zur Zeit so viele "Ödipus"-Inszenierungen gibt: Da geht es um die Blindheit des Menschen sich selbst und seinen Taten gegenüber. Oder Mary Shelleys derzeit so beliebter "Frankenstein": Symbol für den Menschen, der über sich hinauswachsen will. Grundsätzlich schätzt Khuon die Situation der Theater zuversichtlich ein: "Ich glaube stark an Gemeinschaft. Und an das Motto von Hannah Arendt: Wenn Menschen zusammenkommen, muss man mit Wundern rechnen."

Joachim Lux dämpft den Optimismus. Der Intendant des Hamburger Thalia-Theaters rechnet mit einem "langfristig verlorenen Publikum" und mit "harter Arbeit", es zurückzuerobern. Lux macht außerdem einen viel größeren Problemkreis auf: Leere städtische Kassen, steigende Energiepreise, Tariferhöhungen, Inflation - das ergebe einen "explosiven Cocktail von Mehrkosten und Mindereinnahmen". Helfen könne da eigentlich nur ein staatlicher Kulturfonds. Ratloses Schweigen am Telefon. Dann sagt der Spielverderber Lux noch: "Wir tun jetzt alle so, als ob's vorbei wäre. Was, wenn die Inzidenzen wieder steigen?" Vorhang. Cliffhanger. Fortsetzung folgt.

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