Ukraine-Stück:Endlich mal wieder ein Erfolg an den Münchner Kammerspielen

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Berichterstatterinnen aus der Ukraine (von links): Maryna Klimova, Julia Slepneva, Svetlana Belesova und Tanya Kargaeva. (Foto: Armin Smailovic)

Jan-Christoph Gockel inszeniert "Green Corridors" der Dramatikerin Natalia Vorozhbyt. Krass und berührend.

Von Egbert Tholl

Vier Frauen stehen in der Warteschlange nach Europa. Sie kommen aus Kiew, Charkiw, Butscha und Tschernihiw, sie wollen dem Krieg entfliehen. Jetzt lehnen sie an einer Wand wie aus Beton, die die Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele stark verkleinert, das Geschehen nah an die Zuschauer heranrückt. Sie wollen raus aus der Ukraine, während die Wildgänse aus den wärmeren Ländern dorthin zurückfliegen. Eine Gans scheißt ihnen auf den Kopf. Das sieht man nicht, das sagen sie nur.

Natalia Vorozhbyt, geboren 1975 in Kiew, ist zur Zeit Hausautorin an den Kammerspielen, hat ihr Stück "Green Corridors" für das Haus und im Dialog mit dem Theater geschrieben, eine überbordende, bizarre, schmerzliche, sarkastische und auch an die Nieren gehende Topografie des Krieges. Nicht der Schlachten, sondern dessen, was der Krieg in den Menschen anrichtet. Vorozhbyt knallte in die mitteleuropäische Theaterlandschaft, als ihr Stück "Bad Roads" 2022 beim Festival "Radikal jung" im Münchner Volkstheater zu sehen war, in einer Produktion aus Kiew. Es war zuvor schon im Westen zu sehen gewesen, Vorozhbyts eigene Verfilmung des Stoffs, den sie selbst auf Reisen in den Donbass recherchiert und erfahren hatte, war in Venedig gelaufen. Alles ohne großen Widerhall. Man wollte es nicht wahrhaben. Doch jetzt ist Krieg, und was "Bad Roads" eisenhart an Verheerungen im Inneren der Menschen schildert, wird nun in "Green Corridors" noch verrückter. Vorozhbyt ist gesegnet mit abgrundtief schwarzem Humor. Ihr Stück ist fabelhaft. Die Inszenierung von Jan-Christoph Gockel ist es auch.

Vier Frauen. Eine, Svetlana Belesova, wurde auf der Krim geboren, lebt seit 2007 in Deutschland, ist schon länger im Ensemble der Kammerspiele, spielt hier eine Schauspielerin. Tanya Kargaeva, Maryna Klimova, Julia Slepneva kommen mehr oder weniger direkt aus der Ukraine, sind Schauspielerinnen. Hier spielen sie nun eine Nageldesignerin aus Butscha, eine Hausfrau mit drei Kindern, eine Katzenfreundin mit sowjetischer Mentalität. Namen haben ihre Figuren keine, sie stehen mit ihren Schicksalen für viele: Die Nageldesignerin wurde vergewaltigt, die Katzenfrau ist irre, die Mutter versuchte einen Sex-Chat mit ihrem Mann, als eine Bombe einschlug. Der Mann ist tot, das Haus zerstört.

Maryna Klimova, die Hausfrau, Mutter dreier Kinder, deren Mann starb, als das Haus zerbombt wurde. (Foto: Armin Smailovic)

Jetzt stehen sie im "Grünen Korridor", in der Fluchtschneise für zivile Opfer, und die Illustratorin Sofiia Melnyk stellt sie vor, schreibt Hinweise ihrer Biografien an die Wand. Melnyk zeichnet während der Aufführung das, was auf die Wand projiziert wird, die weißen Schatten der Flüchtenden, Tiere, Menschen. Dazu macht Anton Berman (er spielt auch mal einen Grenzbeamten) Musik, manchmal zu viel, er steuert die Emotionen, die ohnehin da sind.

Jan-Christoph Gockel ist selten zimperlich in der Wahl der Mittel, hier passt sein überbordender Ansatz perfekt. Weil man dieses Stücks sonst kaum Herr werden würde, von dessen Gehalt man hier nur Splitter wiedergeben kann. Zu den Geschichten der flüchtenden Frauen kommen zahlreiche andere Figuren, ein Filmregisseur etwa, gespielt vom herrlich aufgekratzten André Benndorff, der auch als Ukrainer mit kanadischem Pass im Kriegsgebiet Hunde einsammelt, reinrassige Spitze, um sie im Westen zu verkaufen. Als Regisseur dreht er mit Belesova historische Szenen über die Dichterin Olena Telina, die von den Nazis in Babyn Jar ermordet wurde, über den ukrainischen Nationalistenführer Stepan Bandera, der mit Hilfe der Nazis eine unabhängige Ukraine wollte und 1959 in München ermordet wurde, über den Komponisten Mykola Leontowytsch, der den Sowjets zu populär war - sie töteten ihn 1921. Drei Menschen, die auf völlig unterschiedliche Art für den Versuch einer selbständigen, selbstbewussten Ukraine stehen. Die Drehszenen sind aberwitzig, rasant, wie alles hier, Biografien verschlingen sich ineinander, die Schauspielerin wird regelmäßig erkannt als eine, die in russischen Serien mitspielte, und wird dann von den anderen Frauen erschlagen. Auch, weil ihr kosmopolitisches Getue nervt.

Belesova spielt fabelhaft, ihre drei Kolleginnen aus der Ukraine sind fabelhaft. Erst sprechen sie vor allem Ukrainisch (mit Übertiteln), dann immer mehr Deutsch, sie kommen an am Fluchtpunkt. Wo Johanna Eiworth auf sie lauert, als Gutmenscheneuropäerin aller Art, immer hysterisch, immer laut - die Ukrainerinnen spielen sie an die Wand.

Einmal setzen alle Mittel aus - und man hört die Geschichte einer Vergewaltigung

Dann setzen alle Mittel aus. Tanya Kargaeva erzählt, was der Nageldesignerin widerfuhr. Erzählt, wie sie tagelang vergewaltigt wurde. "Sie wollen jetzt keine Details hören ... oder doch?" Man hört sie. Die Soldaten flohen aus Butscha, sperrten sie vorher ein, zündeten die Matratze an. Die war zu feucht, um zu brennen. Dann stupst Kargaeva mit einem Finger die Wand an, die fällt um, ohne ein Geräusch, nur mit einem Windhauch. Sie verbeugt sich.

Zum bizarren Humor passt die Hoffnung am Ende. Belesova taucht als Milla Jovovich aus dem Film "Das fünfte Element" auf, futuristische Waffen in der Hand, bereit für das "Big Badabumm". Und die Frauen springen zur Seite hinaus, ins Licht, in eine Freiheit.

"Green Corridors" ist der Höhepunkt des eher zerfahren programmierten "Female Peace Palace"-Festivals der Kammerspiele. Vor der Uraufführung sieht man im Foyer des Schauspielhauses "in my hand I carry", eine "performative Intervention", bei welcher sechs schwarze Frauen schreiten. Ohne etwas zu sagen. Soll etwas mit der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin Mary Church Terrell zu tun haben, die Anfang des 20. Jahrhunderts an Frauenkonferenzen für den Frieden teilnahm. Doch über die bloße Anwesenheit der sechs Frauen geht das nicht hinaus. Was für ein Segen dagegen die inhaltliche und ästhetische Wucht von "Green Corridors" - ein Erfolg, der den Kammerspielen in der gegenwärtigen Krisensituation guttut.

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