Türkische Kommunalpolitiker haben offenbar mit Hilfe deutscher Unternehmen und Vereine Tausenden türkischen Staatsbürgern eine illegale Einreise nach Deutschland ermöglicht. Es besteht der Verdacht, dass auch der Münchner Drittligist Türkgücü als "Schein-Einlader" in einen Schleusungsversuch verwickelt war. Berichte türkischer Medien legen dies nah, Türkgücü allerdings dementiert die vorgebrachte Beschuldigung vehement.
Am Mittwochabend, während des Drittligaspiels bei der Spielvereinigung Unterhaching, hatte Türkgücü-Geschäftsführer Max Kothny auf SZ-Anfrage Stellung bezogen. Er zeigte sich bestürzt von den Anschuldigungen und erklärte, dass der Verein Strafanzeigen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland stellen wolle. "Es ist unerklärlich, wie wir aufgrund einer Aussage aus der Türkei nun in Verdacht geraten, Straftaten begangen zu haben, und das ohne jegliche Beweise", sagte Kothny.
In Hannover erhob die Staatsanwaltschaft bereits Klage gegen einen Unternehmer, der 43 türkische Staatsbürger unter dem Vorwand, einen Umweltworkshop durchzuführen, mit sogenannten "grauen Pässen" nach Deutschland geschleust haben soll. Solche Pässe sind ein legales Instrument für den kulturellen Austausch. Die Ausgabe in der Türkei ist streng reglementiert und erfordert unter anderem Sicherheitsabfragen. Nach einer Einladung durch eine deutsche Nichtregierungsorganisation kann eine Kommune die grauen "Dienstpässe" beim Provinz-Gouverneur beantragen. Sie erlauben eine befristete, visafreie Einreise nach Deutschland.
Das Problem: Die 43 Personen kehrten nicht in die Türkei zurück, von fünf Personen ist nach Auskunft der Staatsanwaltschaft inzwischen bekannt, dass sie Asyl beantragt haben.
Dieses System scheint tausendfach ausgenutzt worden zu sein. Betroffene berichteten gegenüber türkischen Medien von Preisen zwischen 6000 und 8000 Euro plus Busfahrt und Bestechungsgelder an den verschiedenen Grenzen. Nicht nur in Hannover, auch in Weiden ermittelt die Staatsanwaltschaft nach WDR-Informationen in einem ähnlichen Fall. In München scheint es jetzt ebenfalls Ermittlungsbedarf zu geben. Im Februar 2020 soll eine Reisegruppe aus der Osttürkei nach Deutschland gekommen sein - auf Einladung Türkgücüs. Wie sehr der Verein tatsächlich involviert war, ist wegen der Vielzahl widersprüchlicher Aussagen unklar.
"Ich gehe davon aus, dass auch hier Menschenschmuggel stattfand oder stattfinden sollte"
Zwei Dokumente aus der Gemeinde Ceylanpinar in Ostanatolien, die der SZ vorliegen, tragen den Namen des Klubs. Es handelt sich um einen Antrag des Jugend- und Sportclubs von Ceylanpinar an den Bürgermeister der Gemeinde. Am 11. Januar 2020 bittet dieser, 37 vom Sportverein zu benennende "junge Sportler und deren Angehörige" nach Deutschland schicken zu dürfen. Der Verein "Türkgücü München 1975", der auch für alle Ausgaben der Teilnehmer aufkommen werde, habe eine Einladung geschickt. Auffällig ist, dass es sich hierbei nicht um die offizielle Schreibweise des Vereins handelt, auch wenn der Klub im Jahr 1975 gegründet wurde.
Das Reiseprojekt solle unter dem Titel "Sport ist Brüderlichkeit" zwischen dem 16. und 22. Februar 2020 stattfinden. Zielort: München. Der Gemeinderat des Ortes stimmte dem Vorhaben den Unterlagen zufolge am 4. Februar zu. Daraufhin beantragte die Verwaltung beim Gouverneur der Provinz Urfa die Ausreisegenehmigung und die Ausstellung "grauer" Pässe. Beide Schreiben sowie die Teilnehmerliste der angeblichen Reise liegen der SZ vor. Doch von diesem Projekt habe er noch nie etwas gehört, bekräftigte Türkgücü-Geschäftsführer Kothny. Zum Zeitpunkt der geplanten Reise habe sich die Mannschaft in einem Trainingslager in der Türkei befunden.
Auf eine Anfrage der Landtagsgrünen, ob das Innenministerium die Einreise einer 37-köpfigen Gruppe bestätigen kann und Kenntnis über deren Verbleib hat, antwortete das Ministerium: "Zum konkret in Rede stehenden Sachverhalt wurde das Polizeipräsidium München mit den Ermittlungen beauftragt". Der Landtagsabgeordnete Cemal Bozoğlu (Grüne) erklärt: "Der Ablauf und die sprachlichen Formulierungen in der Vereinbarung dieser Gemeinde mit dem Münchner Verein ist identisch mit den Vorgängen in anderen Gemeinden. Es ist das gleiche System und ich gehe davon aus, dass auch hier Menschenschmuggel stattfand oder stattfinden sollte." Ob die Menschen tatsächlich in München waren und ob jemand aus der Gruppe nicht in die Türkei zurückkehrte, ermittelt jetzt die Münchner Polizei. Diese bestätigt auf Nachfrage, dass man mit dem Vorgang befasst sei. Derzeit befinde man sich aber erst in einer Überprüfungsphase.
Der Bürgermeister von Ceylanpinar, der der Erdoğan-Partei AKP angehört, wies die Anschuldigungen zurück und erklärte am 18. April gegenüber der Lokalpresse, die Delegation sei auf Einladung von Türkgücü nach Deutschland gefahren und wieder zurückgekehrt. "Ich kenne weder den Bürgermeister noch einen dort ansässigen Fußballverein", sagt jedoch Klub-Chef Kothny. Es seien keine Einladungen ausgesprochen worden. Wenn es doch ein solches Schreiben gebe, dann würde er diese "gefälschten Dokumente" gerne einmal sehen.