Prozess um tödlichen Raserunfall:Mit 128 km/h innerorts über die Wasserburger Landstraße

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Ein 60-jähriger Raser tötet im September 2017 drei Menschen. Nun entscheidet das Gericht im Berufungsverfahren über die Haftstrafe. Vor Gericht geht es um die erschütternden Details des Unfalls.

Von Susi Wimmer, München

Die 16. kleine Strafkammer am Landgericht München I hat eine akribische Beweisaufnahme durchgeführt. Das Gericht hörte vier Gutachter, etliche Augenzeugen und Polizisten. Es ließ Videos aus der Perspektive des Unfallfahrers anfertigen, auch ein Neurologe kam zu Wort, und sogar ein Wolkenbild der TU gab Aufschluss über die Lichtverhältnisse am Unfalltag. Doch auch nach all den technischen, medizinischen und sachlichen Puzzleteilen ergab sich kein schlüssiges Bild. Und vor allem keine Antwort auf die Frage, warum der damals 60-jährige Nestor P. im September 2017 mit 128 km/h innerorts über die Wasserburger Landstraße raste, ungebremst und ohne Reaktion in einen stehenden Wagen knallte und drei junge Menschen ihr Leben verloren.

Richter Robert Hamberger leitet die Berufungskammer am Landgericht, und er tut dies mit großer Umsicht. Angehörige der Getöteten sitzen im Gerichtssaal, ebenso wie die Familie des Unfallfahrers. Am zweiten Verhandlungstag der Berufung, nach knapp neun Stunden, erklärt er, dass man am heutigen Tag noch kein Urteil verkünden werde. Es stehen die Plädoyers aus, es fehlt die Zeit zur Urteilsberatung. Das wolle man in Ruhe machen, um "der Sache gerecht zu werden".

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Gerechtigkeit werden die Familien der Unfallopfer in ihren Augen wohl nie erfahren. Die Familie des getöteten Baptiste will den Prozess nicht mehr verfolgen. "Das sture Verhalten des Angeklagten war für sie unerträglich", sagt ihr Anwalt Christian Klima. Vor dem Amtsgericht München hatte Nestor P. eine Freiheitsstrafe von vier Jahren erhalten, und war, wie die Nebenklage auch, in Berufung gegangen. Seit vergangener Woche wird erneut verhandelt, der Sachverhalt minutiös aufgerollt.

Exakt vor vier Jahren war eine französische Familie zur Wiesnzeit zu Besuch in München. Julien, 36 Jahre alt, Anne-Sophie, 29, und ihr gleichaltriger Verlobter Baptiste sowie die Mutter der Geschwister waren am 16. September 2017 auf dem Weg zu einer Familienfeier in Trudering. Ein Bruder der Familie lebte in München und hatte sie eingeladen. Zu viert saßen die französischen Gäste in bayerischer Tracht in einem Mietwagen, fuhren die Wasserburger Landstraße stadtauswärts, und waren nur wenige Hundert Meter von ihrem Ziel entfernt. Julien lenkte den Wagen und hatte an der Kreuzung zur Jagdhornstraße an der roten Ampel angehalten.

Unfallgutachter Nikolaus Gotthard drückt den Abspielknopf: Die Prozessbeteiligten fahren nun per Video imaginär im Auto des Unfallverursachers auf der Wasserburger stadtauswärts. Es herrschte leichte Dämmerung, trockene Fahrbahn, gute Sicht. Die Straße biegt sich leicht nach links. Aus gut 100 Metern Entfernung ist die Ampel an der Jagdhornstraße zu sehen, ebenso rote Bremslichter der dort wartenden Autos. Gotthard rechnet vor, dass der Unfall mit geringerem Tempo hätte vermieden werden können. Und auch, wenn Nestor P. mit 128 km/h gebremst hätte, spricht er von "Vermeidbarkeit".

Doch der damals 60-Jährige raste ohne Reaktion in das Heck des Kleinwagens, der gerade nach der Ampelschaltung auf Grün anfahren wollte. Der Opel wurde binnen 0,14 Sekunden, "das entspricht einem Wimpernschlag", um 84 km/h nach vorne beschleunigt, sagt der Gutachter. Die Motorhaube des BMW SUV von P. ist am Ende aufgefaltet wie eine Ziehharmonika. Der Wagen der Opfer ist im hinteren Bereich so zusammengestaucht, dass kaum noch ein Fahrgastraum vorhanden ist. Anne-Sophie saß hinten links, war nicht angeschnallt. "Aber bei dem Unfallgeschehen ist der Gurtstatus irrelevant", sagt Gotthard. Ein Passant konnte die 68 Jahre alte Mutter der Geschwister noch vom Beifahrersitz des brennenden Pkw retten.

Neurologe Jan Remi vom Klinikum Großhadern erklärt vor Gericht, der Angeklagte habe seit 1980 unter epileptischen Anfällen gelitten, ein Jahr später sei ihm ein gutartiger Tumor im Gehirn entfernt worden. Anschließend sei der Mann 35 Jahre lang anfallsfrei gewesen. Laut Zeugen habe P. bei einem Tempo von über 120 km/h den Wagen sicher in der Fahrspur gehalten. Laut dem Neurologen könne der Unfallhergang nicht durch einen epileptischen Anfall erklärt werden. Auch die psychologische Gutachterin Caroline Pöhlmann attestiert dem Angeklagten "unauffällige kognitive Fähigkeiten". Ebenso fand der psychiatrische Gutachter Cornelis Stadtland keine Anhaltspunkte für etwaige Störungen. Ihm gegenüber hatte P. angegeben, er sei "höchstens 60" gefahren. Er habe keinen Blackout oder irgendeinen Anfall gehabt. "Er hatte auch keine Schuldgefühle gegenüber den Getöteten", sagt Stadtland. Ein Urteil soll erst Mitte Oktober gesprochen werden.

© SZ vom 30.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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