SZ-Serie: Meter für Meter:Vom schönen Leben hinter bunten Mauern

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In der Borstei ist schon vor knapp hundert Jahren ein ganz besonderer München-Kosmos entstanden. Auch heute noch trifft man auf Spuren einer vergangenen Zeit.

Von Sabine Buchwald

Straßen sind die Lebensadern der Stadt. Viele sind bekannt, manche sind berühmt, andere erzählen einfach nur gute Geschichten. Ein Streifzug.

Einen schönen Laden in einer schönen Umgebung habe er gesucht, sagt Herbert Lipah. Und so ist er vor 25 Jahren in der Borstei gelandet. In der Ladenstraße, wie hier alle sagen, die nach Franz Marc benannt ist. Nach dem Münchner Maler, der Pferde in Blautönen malte und aus dem Ersten Weltkrieg nicht mehr wiederkam. Die Straße zu seinen Ehren ist kurz. Sie hat nur wenige Hausnummern, aber einen breiten Gehweg, auf dem Bänke stehen. 14 Läden gibt es hier und etwas abseits ein Café. Herbert Lipahs Geschäft findet man auf Nummer zehn.

Er führt nichts, was man zum täglichen Leben dringend bräuchte. Keine Semmeln und Brezen, wie die Bäckerei Ziegler etwas weiter vorne. Er bietet weder schlachtfrisches Fleisch noch Wurst, wie der Hofladen Ostler schräg gegenüber. Haareschneiden? Dazu kann man zu Friseurmeisterin Astrid Deveney gehen, die dienstags bis freitags von 9 bis 18 Uhr geöffnet hat. Lipah sperrt nur am Freitag und Samstag seine Ladentür unter dem großen Bogen auf. Ein Luxus, er weiß das. Aber bei ihm verdirbt ja nichts. Er hat sich auf Lederhosen spezialisiert, auf alte, deren Wert beständig steigt. "Des is a Gwand fürs Leben", sagt Lipah, und sein Laden "wie ein Museum". So um die 2500 Stück, schätzt er, habe er in seinem "Lederhosen-Wahnsinn".

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Vor den Schaufenstern stehen Blumenkästen mit Geranien so üppig und rot wie auf den Balkonen der Voralpen-Bauern. Die Mauern sind hier grün getüncht, was das Rot besonders hervorhebt. Wer etwas Gebrauchtes, Besonderes, Edles aus Bayern sucht, der schaut beim Herbert vorbei, lässt sich die Stickerei auf der Hirschledernen erklären, die Bedeutung eines Chariwari und unumwunden duzen. "Selbst für diese Zeit läuft's nicht schlecht", sagt Lipah. Filmausstatter, Promis, Gäste aus der ganzen Welt kommen seit Jahren zu ihm.

"Der bringt das Publikum hier rein", sagt Andreas Rümmelein. Er wohnt seit 30 Jahren in der Borstei. Er hat hier eingeheiratet. Seine Frau ist in der Siedlung groß geworden. Der Schwiegervater hat noch Bernhard Borst (1883-1963) gekannt, den Gründer, den die Leute ehrfurchtsvoll "Senator" nannten. Er hatte das Areal als Lagerfläche für sein Bauunternehmen gekauft und 1924 die ersten Häuser errichtet. Wer hier Wurzeln hat, will meist nicht weg. Die älteste Bewohnerin soll 102 Jahre alt sein. So um die 2500 Leute wohnen in den aktuell 778 Wohnungen, erzählt Rümmelein. Keine komme je auf den öffentlichen Markt. Interessenten könnten sich bei der Verwaltung auf eine Warteliste setzen lassen.

Das Schild weist auf das öffentliche Leben hinter dem Tor hin. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Rümmelein entwirft Industrie-Design und kümmert sich nebenbei um das kleine Museum der Borstei. Das hat 2006 Line Borst gegründet, eine der Töchter. Hier lässt sich die Geschichte der Siedlung von den Anfängen vor knapp 100 Jahren nachverfolgen. Rümmelein bietet auch Führungen durch die Anlage mit ihren Gärten und Skulpturen an. Von den 70 000 Quadratmetern Grund sind 19 000 verbaut. Statt Balkone zu planen, hat Borst begrünte Höfe angelegt. Dort sollen sich die Bewohner erholen. "Borst war ein kunstsinniger Mensch", sagt Rümmelein. Von seiner Wohnung aus kann er auf die Ladenstraße und einen bronzenen Merkur schauen. Der Gott der Händler und Diebe wacht aus sechs Metern Höhe über das Treiben unter ihm. Kauft Rümmelein hier ein? "Ja, natürlich."

Wer von der Dachauer Straße her kommt und vielleicht zum ersten Mal vor dem steinumfassten Haupteingang der Borstei steht, mag Scheu haben, nach innen weiterzugehen. Die Außenfassade, gestrichen in "Münchner Gelb", wirkt mit den vielen weißen Fensterläden sehr hermetisch. Immerhin weist ein Leucht-Schild auf eine Apotheke, das Café und eine Post hin. Auch einen Verweis auf Läden gibt es, aber kein wiedererkennbares Supermarktsignet. Es fehlt jegliche Werbung - etwa für die kleine "Pils und Cocktailbar", die Kunstgalerie, die Fotografin Elvira Peters. Auch wenn man hier nicht zu Hause ist: Die Moosacher Nachbarschaft sowie Touristen dürfen schauen, was hier geboten ist. Die Ladeninhaber haben es gerade wegen ihrer eingeschlossenen Lage nicht so leicht. Zufällig kommt hier niemand vorbei.

"Ich geh' mal schnell zum Zwicki", sagt man hier, wenn man Obst, Gemüse, Nudeln, Reis oder Wein braucht

Tatsächlich gibt es die Post schon nicht mehr. Bis vor 15 Jahren war hier Münchens kleinstes Postamt gewesen. Immerhin konnte man über den Schreibwarenladen bis vor Kurzem nach Päckchen versenden, aber auch das ist passé. Rentiert sich nicht mehr mit DHL, bemerkt die Ladenbetreiberin, und dass ein neuer Paketservice geplant sei. Über mangelnde Kundschaft kann sich Kosmetikerin Jacqueline von der "Schauminsel" nicht beklagen. Neukunden nehme sie vorerst keine an. Auch Benedicta Schlegels Nähschule hat Zulauf. Ihr mit farbenfroh gemusterten Stoffen und Kleidern dekoriertes Fenster gibt der Ladenzeile einen überraschend modischen Touch. Nicht erwarten würde man auch die Goldschmiede von Anja Helk und Philip Wolfrum.

Und dass hier noch ein gelernter Schuhmacher für gerade Absätze sorgt, ist fast schon eine Sensation. Insbesondere weil Markus Spanier nicht nur abgelaufene Treter repariert, sondern auch Lederschuhe nach Maß anfertigt. Er ist sich auch nicht zu schade, kaputte Schnallen oder Reißverschlüsse an Taschen zu ersetzen. Jemand, der so vielseitig ist, habe sein Auskommen, möchte man meinen. Auf die Frage, wie es ihm denn derzeit gehe, antwortet er jedoch: "Ziemlich schlecht im Moment. Es ist der blanke Horror." Das Corona-Virus und die Sneakers-Mode machen ihm zu schaffen. Den Handwerksbetrieb hat sein Vater Willi 1964 gegründet. Seit 36 Jahren gibt es den Familienbetrieb in der Borstei. Sein Herz hänge daran, sagt Spanier.

Handwerker wie Schuhmacher Marcus Spanier sind hier zu finden. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Mit Herzblut wird sicher auch Feinkost Zwicknagel geführt. "Ich geh' mal schnell zum Zwicki", so sagt man hier, wenn man Obst, Gemüse, Nudeln, Reis, Wein oder andere Zutaten für ein Essen braucht. Wer erst gar nicht seinen Herd anschmeißen mag, der setzt sich ins Café. Das führt seit April 2017 die Zwicknagel-Tochter Marlene zusammen mit André Weber. Eröffnet wurde es schon 1952.

Das Café sei ihren Eltern sehr gelegen gekommen, schreibt Laura Waco in ihrem Buch "Von Zuhause wird nichts erzählt". Darin berichtet sie über ihre Kindheit in der Borstei, über Klingelstreiche in der Ladenstraße, Sommerspaß im nahen Dantebad, Freundschaften und Gepflogenheiten in einer jüdischen Familie. "Gäste werden ausgeführt" und die "Mutti muss man schonen", habe ihr Vater immer gesagt, schreibt Waco. Dieser Gedanke entsprach auch Borst. Er wollte Familien der "gehobenen Mittelschicht" ein angenehmes Leben in seiner Siedlung bieten. Mit Wäsche- und Putzdienst und ersten Autogaragen.

© SZ vom 13.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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