Wenn die Deutsche Bahn im Stadtrat über den Fortschritt beim Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke berichtet, führt das wechselweise zu Entsetzen oder Galgenhumor. Für die verzweifelte humoreske Einlage sorgte am Mittwoch im Planungsausschuss Freie-Wähler-Stadtrat Hans-Peter Mehling. Angesichts des vorgelegten Zeitplans solle die Bahn doch bitte bei der Eröffnungsfeier die dann etwa 80 Jahre alten Politrentner nicht vergessen, sagte Mehling. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) zum Beispiel, oder auch ihn selbst.
Dabei hatte Projektleiter Kai Kruschinski bei seinem jüngsten Besuch im Stadtrat nur weitgehend bekannte Fristen bestätigt: Fertigstellung des zweiten Tunnels 2035 bis 2037. Ende der Erdarbeiten am Marienhof hinter dem Rathaus im Jahr 2026. Und das neue Empfangsgebäude am Hauptbahnhof werde nicht vor 2038 fertig, sagte er. Immerhin hofft die Bahn, dass Ende dieses Jahres oder spätestens Anfang 2024 die Planfeststellung, also das Baurecht, für die zweite Stammstrecke bis zum Ostbahnhof vorliegt.
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Die politischen Positionierungen im Stadtrat nehmen allmählich rituellen Charakter an: Die Fraktionen Linke/Die Partei, FDP/Bayernpartei und ÖDP/München-Liste fordern angesichts der eskalierenden Kosten und des aus den Fugen geratenen Zeitplans die sofortige Einstellung des Projekts. Die Grünen/Rosa Liste bedauern, dass man sich einst nicht für einen Nord- und Süd-Ring bei der S-Bahn entschieden hatte, sondern für den von ihnen nie geliebten Tunnel. SPD/Volt und CSU/Freie Wähler bekennen sich etwas zähneknirschend zur zweiten Stammstrecke und weisen alle Alternativ-Pläne und Einstellungsfantasien als realitätsfremd zurück.
Die Sozialdemokraten fuhren diesmal jedoch eine Doppelstrategie gegen die Bahn. Während sich Fraktionschef Christian Müller in der Sitzung des Planungsausschusses routiniert über die hohen Kosten und die langen Fristen bis zur Fertigstellung besonders auch am Hauptbahnhof ausließ, legte seine Fraktion anschließend mit einer geharnischten Pressemitteilung nach. Wutentbrannt wurde aufgezählt, was die Verzögerungen bei der Stammstrecke für die gesamte Stadtplanung bedeute: ein "Desaster".
Der Dominoeffekt der Verzögerung wirkt sich auf viele Projekte aus
Die Bahn "verhindert" wichtige Projekte und "verwehrt" den Münchnerinnen und Münchnern damit die Verkehrswende, schreibt die SPD in ihrer Generalabrechnung. Und sie zählt auf, worauf sich der Dominoeffekt der Stammstrecken-Verzögerung auswirkt: auf die Tram-Westtangente, die neue Fußgängerzone im Tal, die grüne Oase am Marienhof, einen attraktiven Hauptbahnhof. Und auch auf den Umbau des südlichen Bahnhofsviertels. Dazu ärgert die SPD, dass der Bahnknoten München aus ihrer Sicht vollkommen unzureichend ausgebaut wird. Es gebe keinen Fortschritt beim Nord- oder Südring für die S-Bahn, bei der Trasse für den Brennerzulauf im Osten oder auf der Pendlerstrecke Richtung Mühldorf.
Die Forderungen der SPD hätten wohl auch die meisten Fraktionen im Stadtrat unterschrieben: "eine schnellere Fertigstellung der Großbaustelle am Hauptbahnhof, eine Lösung für das Tal, um hier zeitnah Verbesserungen für Anwohner, Passanten und Passantinnen zu ermöglichen und ein Gesamtkonzept für den Bahnausbau um den Knoten München, das seinen Namen auch verdient". Gerade der Wunsch an die Bahn, nach Möglichkeiten zu suchen, um ihre Projekte zu beschleunigen, wurde auch im Planungsausschuss geäußert. Doch Bahn-Projektleiter Kruschinski ließ diese kühl abblitzen. Solche Möglichkeiten gebe es kaum, sagte er.
Bei der Frage nach den Kosten, die zwar der Freistaat und der Bund tragen, die aber auch die Münchner Politik interessieren, blieb Kruschinski der Linie seines Unternehmens treu: lieber nichts sagen, was nicht schon längst bekannt ist. Er nannte dem Stadtrat eine Bausumme von sieben Milliarden Euro. Stand 2021. Die Steigerung der Baukosten seitdem, die einen Gesamtbetrag von eher 8,5 Milliarden Euro nahelegen, wollte er nicht beziffern.