Schwabing:Unbekanntes und ein Skandal

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Der Altbau der Kirche mit seinen drei Altären. (Foto: Edgar Hohl/oh)

Dem Pfarrer war seine Kirche zu klein, also wollte er das "Schmuckkästlein" 1866 heimlich abreißen lassen. Kunsthistorikerin Sibylle Appuhn-Radtke hat für ihr Buch über St. Sylvester viele neue Informationen zusammengetragen

Von Nicole Graner, Schwabing

Eigentlich sollte es die wunderbaren Kirchenräume der Schwabinger Sankt-Sylvester-Kirche, an der man unweigerlich vorbeikommt, wenn man die Haimhauserstraße in Richtung Englischer Garten hinunterspaziert, gar nicht mehr geben. Denn wäre es nach dem Willen von Pfarrer Eugen Schoen (geboren 1823, Todesdatum unbekannt) gegangen, dann wäre die Pfarrkirche 1866 einfach abgerissen worden. In einem Schreiben an das Bezirksamt begründet Schoen sein Vorhaben: "Das Bedürfnis der Vergrößerung der Pfarrkirche in Schwabing ist seit langem ein schreiendes, da die Pfarrgemeinde bereits 2500 Seelen zählt, in der jetzigen Kirche aber mit Noth 300 Menschen Platz finden, so liegt hier ein arger Mißstand vor, der baldige Abhilfe erheischt, wenn nicht die pfarrliche Pastoration zur Unmöglichkeit werden soll."

Unmöglich fanden die Mitglieder der Kirchenverwaltung das Vorgehen ihres Pfarrers, denn sie waren darüber überhaupt nicht in Kenntnis gesetzt worden. Und nun schrieben auch sie an das Bezirksamt. Natürlich ohne Pfarrer Schoen zu informieren. Die Kirche sei nicht zu klein und baulich in einem guten Zustand und auch ein größeres Gebäude wäre bei der Bevölkerungsexplosion in Schwabing bald auch wieder zu klein. Die Retourkutsche lohnte sich, die Kuh war vom Eis. Das Bezirksamt wollte von einem Abriss nichts mehr wissen.

Anmutig und demütig: Die Maria der Verkündigung, die im Neubau steht, ist wohl dem Bildhauer Joseph Gärger zuzuschreiben. (Foto: Roland Kanz/oh)

"Ja", sagt Sibylle Appuhn-Radtke, "das war ein handfester Skandal damals." Die freie Kunsthistorikerin hat gerade ein Buch über die 800-jährige Geschichte von St. Sylvester geschrieben und erzählt von den verschiedenen Schreiben ans Bezirksamt, die ihr bei den Archiv-Recherchen in die Hände gefallen sind. "Diese Briefe des Pfarres haben mich zur Weißglut gebracht", sagt sie und lacht herzhaft. Denn sie seien so umständlich gewesen, sehr eitel formuliert und in winzig kleiner Schrift geschrieben. "Er muss ein schwieriger Mann gewesen sein", sagt die ehemalige Professorin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Pfarrer Schoen hatte jedenfalls das Vertrauen seiner Pfarreimitglieder verspielt und sei dann wohl aufs Land "strafversetzt" worden.

In der langen Recherchearbeit hat die Kunsthistorikerin der Geschichte von St. Sylvester chronologisch und sehr detailliert nachgespürt. Und schnell war klar, dass sie so viel Material zusammen hatte, dass man die eigentliche Idee, nach der Renovierung der Kirche endlich einen Kirchenführer zu veröffentlichen, zunächst verwerfen musste. Ein Buch war für die wechselvolle Geschichte der Kirche, deren Anfänge man nicht genau nachweisen kann, genau das Richtige. Appuhn-Radtke hat bei der Spurensuche viel Neues entdeckt. Neues, das das hartnäckige Suchen und akribische Hinterfragen belohnt. Eben jenen Briefwechsel zum Beispiel, dazu ein altes Urbar, in dem neben alten Zeichnungen die genauen Besitzverhältnisse aufgelistet sind, und alte Rechnungsbücher. "250 Jahre sind da genau verzeichnet", sagt die Autorin, und glaubt, dass es selten so ein umfangreiches Listenwerk für eine Kirche gegeben hat. Darin stehen die genauen Ausgaben und Einnahmen, man sieht, dass die Pfarrer schlecht bezahlt wurden und auf Nebenverdienste wie Taufen und Hochzeiten angewiesen waren. Neu ist auch, und das zeigen die Bücher laut Appuhn-Radtke deutlich: St. Sylvester war eine sehr reiche Kirche. "Die Kirche war zwar klein, aber die Pfarrei hatte richtig viel Geld." St. Ursula - so hieß bis 1920 die Schwabinger Dorfkirche, die bis 1811 eine Filialkirche von St. Margaret in Untersendling war, dann Dorfkirche und später in St. Sylvester umgetauft wurde - bekam diese Einnahmen in erster Linie durch die Kapitaleinnahmen des Schwabinger Siechenhauses (Krankenhaus) St. Nikolai. Die Kirche hatte tatsächlich so viel auf der hohen Kante, dass sie Geld an andere Kirchen und sogar Privatpersonen verleihen konnte.

Besonders freut es Sibylle Appuhn-Radtke, dass sie in den Büchern auf eine Rechnung eines Herrn Gargner, Gäger oder Jerger gestoßen ist. Sie bekommt heraus, dass es sich um den Bildhauer Joseph Gärger (Geburtsdatum unbekannt, gestorben. wohl 1785) handeln muss, der 130 Gulden für das Tabernakel des Hochaltars bekommen hatte, das er 1773 anfertigte. Wie auch 30 Gulden für sechs "Brustbilder". Zwei davon sind heute im Innenraum noch zu sehen: der heilige Benedikt und die heilige Barbara. Die Figuren lassen wohl erkennen, dass Gärger Kontakt zur berühmten Werkstatt von Franz Ignaz Günther (1725 - 1775) hatte. Weil auch noch immer nicht ganz klar ist, wer die Verkündigungsgruppe, also Maria und den Engel Gabriel schuf, steht nun die neue kunsthistorische Überlegung im Raum, ob nicht dieser Järger auch der Bildhauer der Maria gewesen sein könnte.

Hinweise dazu liefern alte Rechnungsbücher. (Foto: Sibylle Appuhn-Radtke/oh)

Sibylle Appuhn-Radtke könnte mit ihrer warmen und ruhigen Stimme noch viele Geschichten über St. Sylvester erzählen. Sie ist vollkommen eingetaucht in die Schwabinger Historie, zu der diese Kirche unbedingt gehört, die aus kunsthistorischer Sicht, so Appuhn-Radtke, schon lange "große Aufmerksamkeit verdient" hätte. Diese Aufmerksamkeit wird ihr mit diesem Buch jetzt geschenkt. Was auch heißen soll: Vor allem ein Besuch in diesem Schwabinger "Schmuckkästlein" am Rand des Englischen Gartens lässt alle Geschichten, die die Autorin erzählt, noch einmal lebendig werden.

"Zwei Kirchen unter einem Dach: St.Sylvester in München-Schwabing. 800 Jahre Geschichte, Kunst und Kultur", erschienen 2020 im Franz Schiermeier Verlag, ISBN 978-3-943866-92-6. Bestellung für 34,50 Euro über www.franz-schiermeier-verlag.de

© SZ vom 02.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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