Leere Schutzhäuser:Wo sind die Kinder?

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Wenn sie im eigenen Zuhause nicht mehr sicher sind, nehmen Einrichtungen gefährdete Minderjährige auf. Doch derzeit bleiben auffallend viele Plätze leer - das ist kein gutes Zeichen.

Von Sabine Buchwald und Sven Loerzer

Drei Kinder sind es nur. Platz aber wäre für neun. Sie könnten im Sandkasten der Villa in Nymphenburg spielen, auf das Klettergerüst im Garten steigen. Sie wären hier im Kinderschutzhaus sicher. Doch derzeit wohnen nur drei Kinder hier. Ein Alarmzeichen für Andrea Wimmer, die Leiterin des Hauses. Die Sozialpädagogin arbeitet seit sieben Jahren in dieser Münchner Kinderschutzstelle, die Kindern im Alter von zwei bis zehn Jahren ein Dach über dem Kopf bietet, wenn sie in Not geraten sind. Wenn ihre Eltern nicht für sie adäquat sorgen, wenn Erwachsene eine Gefahr für sie sind, wenn das Jugendamt auf ihre Situation aufmerksam geworden ist.

Das Kinderschutzhaus ist eine von zehn solcher speziellen Institutionen in der Stadt München, die zusammen 124 Plätze bieten. Betrieben werden sie von verschiedenen Trägern. Sie sind Teil des großen Netzwerkes der Kinder- und Jugendhilfe.

Seit November hatte Andrea Wimmer keine einzige neue Anfrage mehr. "Ein äußerst ungewöhnlicher Zustand", sagt sie. Gerade vor Weihnachten sei erfahrungsgemäß der Bedarf an Schutzplätzen hoch. Überhaupt sei es im vergangenen Jahr ungewöhnlich still bei ihnen gewesen. Deshalb fragt sie sich: "Wo sind die Kinder?"

Sie hatte erwartet, dass es mit den zusätzlichen Sorgen und Ängsten, die Erziehungsberechtigte in der Corona-Zeit belasten, eigentlich mehr Inobhutnahmen als sonst üblich hätte geben müssen. Sie habe keine Belege für ihre Vermutungen, aber sie male sich immer wieder aus, was womöglich gerade "alles passiert hinter den geschlossenen Wohnungstüren im Lockdown".

Seit dem 1. Februar sind die 16 pädagogischen Mitarbeiter des Kinderschutzhauses nun in Kurzarbeit. Wimmer fürchtet um die Existenz der Einrichtung, die es seit mehr als 25 Jahren gibt. Sie wird vom Kinderschutzbund Ortsverband München, von der Stadt, der Regierung von Oberbayern und von privaten Spendern unterhalten. Doch die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln erfolgt über Tagessätze, die jedes Haus pro Kopf und Tag abrechnen kann. Ein üblicher Tagessatz liegt für das Kinderschutzhaus bei 400 Euro. Wenn nur drei Kinder statt neun dort untergebracht sind, dann wächst schnell ein fünf- bis sechsstelliges Defizit an.

Kein Wunder also, dass sich Wimmer Sorgen macht, auch wenn sinnvollerweise nicht immer alle Plätze in den verschiedenen Institutionen vergeben sein sollten. Wie könnte man sonst entsprechend rasch reagieren?

Dennoch fällt auf, dass es auch in anderen Häusern derzeit mehr freie Plätze als sonst üblich gibt. Am 20. Januar waren es 45 in München und im Landkreis. Das hat Miriam Egeler, Sprecherin der Fachgruppe Inobhutnahme, recherchiert. Sie arbeitet für das Diakonische Werk Rosenheim, das auch in München Kinderschutzgruppen unterhält. Sie sagt: "Wir sind Schwankungen gewohnt, aber die Zahlen sind seit dem Herbst deutlich nach unten gegangen." Man brauche eine konstante Belegung übers Jahr von etwa 90 Prozent, um kostendeckend arbeiten zu können.

Die Finanzierung ist nur ein Aspekt in der momentanen Situation. Sehr viel größer ist derzeit die Angst von Sozialpädagogen, Ärzten und Psychologen um die Kinder und Jugendlichen selbst. Es ist zu befürchten, dass das über Jahre gewachsene Netz während der Pandemie löchrig geworden ist. Manche Kinder seien einfach nicht mehr sichtbar, sagt Egeler. Sie denkt dabei vor allem an die ganz Kleinen, die kein Handy und auch sonst kaum eine Möglichkeit haben, um Hilfe zu bitten. An jene Kinder, die niemandem von den Auseinandersetzungen in ihrer Familie erzählen können, von verbaler Aggression der Erwachsenen, von Schlägen oder sexuellen Übergriffen. "Die Meldeketten funktionieren nur noch sehr eingeschränkt", sagt Angela Bauer vom Verein Heilpädagogisch-psychotherapeutische Kinder- und Jugendhilfe (HPKJ). "Wir können die seelische und körperliche Unversehrtheit nicht sichern", gerade die Verletzlichsten blieben dabei auf der Strecke.

Kitas bieten derzeit nur Notbetreuung an und die Schulen sind geschlossen. Die Erzieher, Pfleger und Lehrer, die Auffälligkeiten bemerken könnten, sind auf Distanz. "Die Kinder, die wir unbedingt sehen müssten, sieht keiner mehr", befürchtet Gundula Brunner, geschäftsführende Vorständin der Initiative für Münchner Mädchen (Imma).

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Andrea Bergmayr, Leiterin der Imma-Beratungsstelle für Mädchen und junge Frauen, befürchtet, dass es weniger Erwachsene gibt, die hinschauen und erkennen, wenn Kinder belastet sind. "Wir wollen Kinder ermutigen, bei uns anzurufen, aber auch Erwachsene, die sich in ihrer Einschätzung unsicher sind." Denn Fachkräfte von Kitas, Hort, Sportvereinen, denen Verhaltensveränderungen oder Verletzungen auffallen könnten, bekommen Kinder im Lockdown kaum zu Gesicht. "Wir haben keinen Einblick mehr, wie es ohnehin schon hochbelastete Familien schaffen, mit den zusätzlichen Belastungen durch die Pandemie umzugehen."

Die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände, der Kreisjugendring München-Stadt und der Münchner Trichter warnen unisono vor den Folgen der Schul- und Kita-Schließungen. "Kinder und Jugendliche, die in problematischen Familiensituationen leben, können sich diesen kaum noch entziehen." Der Preis einer anhaltenden Schließung sei zu hoch: "Zu groß ist die Gefährdung von Kindern, die sich in Notsituationen nicht mehr an Lehrerinnen und Erzieherinnen wenden können, zu nachhaltig sind die Beeinträchtigungen der sozialen, emotionalen, körperlichen und kognitiven Entwicklung der Kinder und Jugendlichen." Die Schulen müssten deshalb schnellstmöglich mit besseren Infektionsschutzstandards wieder geöffnet werden.

Auch viele Kinder- und Jugendärzte sehen weit weniger Patienten als sonst. Genaue Zahlen gebe es noch nicht, sagt Dominik Ewald, Vorsitzender des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Bayern. Aber er gehe von etwa 30 Prozent Rückgang in den vergangenen Monaten aus. Ein Grund dafür ist: Die Kinder sind in diesem Lockdown-Winter gesünder als sonst. Sie haben weniger Rotznasen, kaum eine Bronchitis. Im Notdienst am vergangenen Samstag habe er nur zehn junge Patienten behandelt, berichtet Ewald. Sonst seien es bis zu 120 gewesen.

Folglich kommen auch Mediziner, die Familien oft über Jahre begleiten, coronabedingt den Kindern nicht nahe. Gabi Haus, Erste Vorsitzende des Paednetz München, schwärmt von dem "ausgeklügelten Schutzsystem" der Stadt mit ihrem Gesundheitswesen, der Jugendhilfe, den Schulen, den Kitas, mit Polizei und Staatsanwaltschaft. Alle seien sehr sensibilisiert, sagt sie. Womöglich gebe es auch deshalb weniger verzeichnete Fälle, weil man gefährdete Familien intensiver betreue. Sie glaubt auch, dass Mütter mit ihren Kindern rechtzeitig in Frauenhäuser oder Wohngruppen untergekommen sind. Denn diese liefen voll.

Weil in den Schutzstellen weniger Kinder ankommen, wirkt sich das in der Folge schon jetzt auch bei anderen Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe aus, die Kinder nach der Klärung des Hilfebedarfs aufnehmen. "Die Transportkette funktioniert nicht mehr", berichtet die Leiterin eines Münchner Kinderheims, die anonym bleiben möchte. "Bislang waren unsere Plätze gut belegt." Aber mit der Corona-Pandemie und dem ersten Lockdown habe sich das geändert. In 2021 gebe es bisher noch keine Neuaufnahmen in dem Heim, möglicherweise müsse eine Wohngruppe geschlossen werden.

Dorothee Schiwy, Sozialreferentin der Stadt und damit zuständig für das Münchner Jugendamt, befürchtet, dass mit der Lockerung der Bedarf an sicheren Orten für Kinder ansteige. Deshalb hält sie es für absolut richtig und wichtig, die Schutzstellen, so wie sie im Moment vorhanden sind, zu erhalten. Wie viele Fälle von häuslicher Gewalt oder Missbrauch gemeldet werden, könne man nicht vorhersagen. Das Kinderschutzhaus aber könne mit finanzieller Unterstützung rechnen. Man sei inzwischen im Austausch. In solchen Situationen werde über höhere, entsprechend ausgleichende Tagessätze verhandelt. Wie Andrea Wimmer appelliert auch Schiwy an die Bürger: "Wachsam bleiben, auf Kinder in der Nachbarschaft achten. Und im Zweifelsfall zum Telefon greifen."

Kinderschutzzentrum Telefon 55 53 56; IMMA Telefon 260 75 31; KIBS Telefon 23 17 16 91 20

© SZ vom 06.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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