Refugio-Geschäftsführer Jürgen Soyer:"Unsere Klienten sahen, wie Menschen ermordet oder von Bomben zerrissen wurden"

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Die Traumata würden immer schwerer, sagt Jürgen Soyer. Er ist Geschäftsführer von Refugio, einer Einrichtung, die sich um Folteropfer kümmert. (Foto: Stephan Rumpf)

Wer bei Refugio Hilfe sucht, hat meist Grausames erlebt, im Heimatland, auf der Flucht - oder später auch in Deutschland. Manchmal dauert es Jahre, bis die Opfer darüber sprechen können.

Interview von Christina Hertel

"Hätte ich zu unserem Jubiläum einen Wunsch frei, wäre das eine gute Fee, die auf der ganzen Welt alle Kriege wegzaubert", sagt Jürgen Soyer. Er ist Geschäftsführer von Refugio, einem Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer in München, das gerade 25 Jahre alt geworden ist. Nötig wäre so eine Fee sicherlich, weltweit sind mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele zählte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen noch nie. Doch weil es gute Feen nur in Märchen gibt, fängt Soyer mit kleineren Wünschen an: Dass die Politik statt auf Abschreckung auf Integration setzt - so wie München, das einen Vorbildcharakter habe. Weil es eine Ausländerbehörde gebe, mit der man reden könne, und einen Stadtrat, der verstanden habe, wie wichtig es sei, dass Geflüchtete am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Soyer erklärt, warum der Hass in Chemnitz trotzdem Folgen für Flüchtlinge in München hat und weshalb die Arbeit der Beratungsstelle immer schwieriger wird, obwohl zurzeit weniger Menschen in Deutschland ankommen.

SZ: Die Vision von Refugio ist eine Welt, in der alle Menschen die gleichen Chancen haben und in der es keine Diskriminierung gibt, so steht es auf Ihrer Homepage. Wie weit sind wir gerade davon entfernt?

Jürgen Soyer: Im Vergleich mit anderen Ländern haben wir in Deutschland sicher viel erreicht. Trotzdem hören wir von unseren Klienten häufig: "Ach, wir dachten, Deutschland sei ein Land der Menschenrechte."

Warum zweifeln sie daran?

Unsere Klienten sahen, wie Menschen ermordet oder von Bomben zerrissen wurden. Sie erlebten Folter oder sexuelle Gewalt. Dann kommen sie in Deutschland an und denken, sie könnten endlich zur Ruhe kommen. Aber besonders in den Anker-Einrichtungen können sie oftmals kein Vertrauen fassen - es gibt Polizeirazzien, sie dürfen nur mit Genehmigung Besuch empfangen, sie müssen sich mit Fremden ein Zimmer teilen. Gleichzeitig sollen sie schnell über ihre Erlebnisse sprechen, damit sie nicht abgeschoben werden. Das ist ein extremer Druck. Hinzu kommt, dass unsere Klienten immer häufiger von Diskriminierung berichten.

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Von welchen Erfahrungen erzählen sie?

Inzwischen ist es in den Beratungen fast täglich Thema, dass unsere Klienten auf der Straße Beschimpfungen wie "hau doch ab" oder "du dreckige Sau" hören. Von körperlicher Gewalt wissen wir nichts. Doch vor 15 Jahren gab es auch solche Beleidigungen kaum. Heute spüren wir - besonders nach den Ausschreitungen in Chemnitz -, dass sich die Menschen plötzlich trauen, sich rassistisch zu äußern. Zurzeit merken wir auch, dass die Spenden zurückgehen. Aussagen wie die unseres Innenministers, dass Migration die Mutter aller Probleme sei, tragen nicht dazu bei, dass die Gesellschaft bei der Integration freudig mit anpackt.

Was macht das mit den Geflüchteten?

Solche Beleidigungen schwemmen Erfahrungen hoch. Das macht die Therapie deutlich schwerer. Was ich lange nicht verstanden habe: Jede Form der psychischen Gewalt - also zum Beispiel Bedrohungen und Beleidigungen - kann einen Menschen nachhaltiger kaputt machen als körperliche.

Zurzeit geht die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland zurück. Hat sich Ihre Arbeit entspannt?

Das denken viele. Tatsächlich ist gerade die Anzahl an Flüchtlingen - wenn man die Jahre 2015/16 mal ausnimmt - so hoch wie seit Anfang der Neunziger nicht mehr. Bei Refugio melden sich immer fünfmal so viele Menschen an, wie wir Plätze haben. Gleichzeitig sind die Traumata schwerer zu behandeln. Denn inzwischen kommen zu uns fast nur Menschen, die nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch auf der Flucht Traumatisches erlebt haben. Das liegt daran, dass immer mehr Grenzen dicht machen und die Fluchtrouten immer gefährlicher werden.

Wie reagieren Sie darauf?

Wir entwickeln unser Angebot immer weiter und passen es an. Während des Kosovokriegs kamen viele vergewaltigte Frauen zu uns. Dann entwickelten wir ein Konzept für Gruppentherapien. Auch als viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu uns kamen, haben wir darauf mit einer eigenen Abteilung reagiert. Derzeit betreuen wir etwa 20 Frauen aus Nigeria, die in Italien zur Prostitution gezwungen wurden, auch darauf haben wir uns in einer Frauenfachstelle spezialisiert.

In welchem Zustand kommen Ihre Klienten zu Ihnen?

Oft leben sie schon eine Weile in Deutschland, zum Teil arbeiten sie oder machen eine Ausbildung. Viele denken: "Ich muss mich nur zusammenreißen, dann geht es irgendwie." Doch dann merken sie, dass sie es einfach nicht schaffen, dass sie kurz davor sind, komplett zusammenzubrechen. Ein Zehntel unserer Klienten hat einen Suizidversuch hinter sich, in Deutschland oder in ihren Heimatländern. Ein Drittel schätzen wir als selbstmordgefährdet ein. Oftmals schicken sie Anwälte und Sozialdienste zu uns.

Wie helfen Sie diesen Menschen?

Ein Klient sagte einmal: "Am Anfang dachte ich, ihr habt selbst keine Ahnung, ihr fragt ja nur." Als wir zurückgefragt haben, warum er dann geblieben ist, war seine Antwort: "Endlich war ich an einem Ort, wo ich reden konnte, wo mir jemand zuhört." Freundlichkeit ist enorm wichtig, damit die Klienten Vertrauen fassen. Trotzdem dauert es manchmal Jahre, bis sie das erzählen können, was sie erlebt haben.

© SZ vom 22.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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