Münchner Seiten:Die Goldene Stadt an der Isar

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Für "Radio Free Europe", einen von der CIA finanzierten Propagandasender, arbeiteten in München rund 100 Exilanten aus der Tschechoslowakei. Das Bild zeigt den Senderaum der Radioanstalt an der Oettingenstraße. (Foto: Sommer/Imago)

Zwischen Prag und München gibt es viele historische Verbindungen, beide galten Künstlern und Intellektuellen als Sehnsuchtsorte für Freiheit. Ein Buch geht nun auf die Suche nach "böhmischen Spuren".

Von Wolfgang Görl

Wenn von Einflüssen anderer Länder auf Münchens Kulturgeschichte die Rede ist, fällt den meisten Leuten zu allererst Italien ein. Als Beispiele dienen dann die nach italienischen Vorbildern gestalteten Monumentalbauten der Ära König Ludwigs I., etwa die Feldherrnhalle oder der Königsbau der Residenz, aber auch alltagskulturelle Erscheinungen wie die Vorliebe für italienisches Essen oder ein genereller Hang zur Italianità. Auch aus Österreich und insbesondere aus Wien ist in der Vergangenheit manches nach München hinübergeschwappt, und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die US-amerikanische und mittlerweile globale Popkultur auch an der Isar tonangebend. Nur sehr selten kommen in derlei Diskursen Prag oder Böhmen vor, obwohl allein die geografische Nähe diverse kulturelle Berührungspunkte vermuten lässt. Aber irgendwie sind die östlichen Nachbarn aus dem Blickfeld geraten, sei es, weil lange Zeit der Eiserne Vorhang dazwischen hing, sei es aus anderen Gründen.

Diesen Missstand zu beheben, ist Ziel eines Buches, das nun im Volk-Verlag erschienen ist. "Böhmische Spuren in München" ist der Titel einer Sammlung aus Aufsätzen und Dokumentationen, die der Historiker und Essayist Jozo Džambo herausgegeben hat. Die Idee zu dem Buch, schreibt Džambo im Vorwort, entstand im Adalbert Stifter Verein, einem seit 1947 bestehenden Kulturinstitut, das sich um den deutsch-tschechischen Kulturaustausch und Dialog kümmert. Dabei weist der Herausgeber darauf hin, dass der Begriff "Böhmen" komplex ist, und stellt mit Blick auf seine Publikation klar: "Mit 'Böhmen' ist nicht nur das ehemalige Kronland gleichen Namens gemeint, sondern auch Mähren und Österreichisch-Schlesien, also jene historischen Regionen und Länder, die bis 1918 zu den Ländern der Böhmischen Krone gehörten."

Eines fällt bei der Lektüre sofort auf: Oft hatte es politische Ursachen, wenn Menschen aus Böhmen nach München kamen oder Frauen und Männer aus Bayern ihr Glück in den böhmischen Ländern suchten. "Abwechselnd erschienen München und Prag als Sehnsuchtsort der Freiheit und der Demokratie", schreibt der Literaturhistoriker Peter Becher in seinem Beitrag "Magnet München". Becher erinnert dabei an die vielen Münchner, die nach der Machtübernahme Hitlers Zuflucht in der Tschechoslowakei suchten, beispielsweise die Schriftsteller Thomas Mann und Oskar Maria Graf oder der Zeichner Thomas Theodor Heine. Umgekehrt gab es nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Emigrationswellen, auf denen Tschechen nach Deutschland und häufig nach München ritten. Die erste entstand 1948 nach dem kommunistischen Umsturz in der Tschechoslowakei; die zweite erfolgte nach dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings im August 1968.

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Im Jahr 1897 wohnte der in Prag geborene Dichter Rainer Maria Rilke in der Blütenstraße. In München lernte er Lou Andreas-Salomé kennen und lieben.

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Bier vereint den böhmischen und den bayerischen Löwen, eine Karikatur zur Eröffnung der bayerisch-böhmischen Westbahn 1861.

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Fußballtreffen München-Prag, eine Zeichung aus dem Simplicissimus. Fotos: Adalbert-Stifter-Verein (2), Jozo Džambo

Die größte Gruppe von Menschen, die nach dem Krieg von Böhmen an die Isar kamen, waren jedoch die Sudetendeutschen, die auf Grundlage der sogenannten Beneš-Dekrete vertrieben wurden. Auch um sie geht es in diesem Buch.

In politisch ruhigeren Zeiten verlief das Hin und Her zwischen Böhmen und Bayern weniger spektakulär, aber dafür stetig und zu beiderseitigem Vorteil. Im Oktober 1841 etwa besuchte der slowakische Sprachwissenschaftler Jan Kollar seinen bayerischen Kollegen Johann Andreas Schmeller in dessen Münchner Wohnung, was zu einem anregenden Gedankenaustausch und gegenseitigen Komplimenten führte. Nicht gut weg kam München hingegen beim Besuch des Prager Schriftstellers Jan Neruda im Jahr 1863. Dieser befand, die "Häuser sind meist unhübsch", manche Stadtteile wirkten "fast tot", die Eleganz der Geschäfte bleibe weit hinter der von Prag zurück, Bier sei der wichtigste Gesprächsgegenstand des Münchners, der im Übrigen "schrecklich konservativ" und voll "ordinärem Haß" sei gegen alles, "was norddeutsch insbesondere preußisch ist".

Wichtiger als Durchreisende sind für München jene Böhmen, die länger blieben oder sich gar für immer ansiedelten. So kamen beispielsweise in den 1880er-Jahren viele böhmische Studenten, um an der berühmten Kunstakademie zu studieren. Dort unterrichtete auch der in Prag geborene Gabriel Max, der es als Maler zu hohem Ansehen und ebensolchen Einkünften brachte. Sein Gemälde "Affen als Kunstrichter" ist noch heute populär. Der aus dem böhmischen Goldbrunn stammende Bildhauer Anton Pruska hat für viele öffentliche und private Gebäude Münchens Bauplastiken geschaffen, darunter das Tympanon an der Fassade der neuromanischen Kirche St. Anna im Lehel.

Rafael Kubelik führte die BR-Symphoniker zu neuen Höhen. (Foto: Neumeister/Imago)

Der wohl berühmteste böhmische Teilzeitmünchner der Bohemezeit ist der 1875 in Prag geborene Dichter Rainer Maria Rilke, dem im Buch ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Rilke kam im September 1896 als Student nach München und wohnte zunächst an der Brienner Straße und bald darauf an der Blütenstraße. In München lernte Rilke bald die Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé kennen, eine der interessantesten Frauen ihrer Zeit, der die zeitgenössischen Geistesgrößen reihenweise verfielen. Natürlich erwischte es auch den jungen Rilke, es entspann sich eine heftige Liaison mit der verheirateten Dame, die in den Sommermonaten in einem Wolfratshauser Bauernhaus vertieft wurde und noch Jahre anhielt.

Die Beiläufigkeit, mit der Džambo diese auch poetisch ertragreiche Liebesgeschichte schildert, offenbart eine Schwäche des Buches, die in einigen Beiträgen bemerkbar ist. Das böhmische Leben in München schildern manche Autoren im Stil eines Schriftführers, der das Protokoll einer Vereinssitzung verfasst. Im Kapitel über die böhmische Küche beispielsweise erfährt der Leser kaum, was diese auszeichnet, und auch über die verschwundenen böhmischen Restaurants wie die "Goldene Stadt" oder "Zur Stadt Prag" ist nicht viel mehr zu lesen als die Namen der Inhaber und einiger prominenter Gäste. Auch was die Illustrationen betrifft, wird der Leser gelegentlich im Stich gelassen. So ist im Kapitel über das Sudetendeutsche Archiv von mehr als 100 000 interessanten historischen Fotos die Rede, zu sehen ist aber kein einziges. Stattdessen kann sich der Betrachter an mit Sammelkartons gefüllten Archivregalen und schlecht gestellten Gruppenfotos erfreuen. Hier hätte etwas mehr Sorgfalt nicht geschadet. Auch hätte man sich gewünscht, die erzählerische Kraft und Anschaulichkeit der böhmischen Literatur wäre etwas deutlicher in einigen der Texte zum Tragen gekommen.

Dessen ungeachtet ist die Lektüre lohnend. Neben Rilkes Abenteuern erfährt man auch Wissenswertes über Kafkas drei kurze Aufenthalte in München; und dass Gustav Meyrinks berühmter Prag-Roman "Der Golem" in der bayerischen Landeshauptstadt geschrieben wurde, ist vielleicht auch nicht jedermann bekannt.

Neben den Kapiteln über Filmschaffende und tschechischsprachige Schriftsteller in der jüngeren Vergangenheit Münchens sticht Franz Adams Beitrag über die Dirigenten Fritz Rieger und Rafael Kubelik besonders hervor. Der aus Ober-Altstadt stammende Rieger avancierte 1948 zum Chef der Münchner Philharmoniker und prägte das musikalische Leben der Stadt ebenso wie Kubelik, der das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zu neuen Höhen führte. Was ihre Position betrifft, waren sie Rivalen. Dennoch schreibt Adam: "Tatsächlich aber waren sie seit ihrer gemeinsamen Prager Vergangenheit befreundet und blieben es über zeitgeschichtliche Abgründe hinweg."

Fritz Rieger war Chef der Münchner Philharmoniker. (Foto: Neumeister/Imago)

Viele der nach der kommunistischen Machtübernahme 1948 geflohenen tschechischen Journalisten und Schriftsteller arbeiteten für Radio Free Europe (RFE), dem von der CIA finanzierten US-Propagandasender, der in München seinen Sitz hatte. "Obwohl 'Stimme der Emigranten' genannt, war Radio Free Europe tatsächlich ein US-amerikanisches politisches Projekt, ein Instrument der psychologischen Kriegführung, das vor dem Hintergrund des Kalten Krieges Ende der 1940er-/Anfang der 1950er-Jahre mit maßgeblicher Beteiligung des amerikanischen Geheimdienstes entwickelt wurde", berichtet Anna Bischof in ihrem gut recherchierten Beitrag. Viele tschechische RFE-Mitarbeiter der ersten Stunde hatten zur politischen und kulturellen Elite des Landes gehört. Der Sender war eine der wenigen Institutionen in München, der diesen Emigranten Gelegenheit bot, in ihrer Muttersprache zu schreiben und damit Geld zu verdienen. Gleichwohl taten sie sich schwer, in München Fuß zu fassen. So schreibt Anna Bischof: "Auch aufgrund der auf die Heimat fixierten Arbeit und die Unterbringung in RFE-eigenen Wohnungen integrierten sich die RFE-Journalisten zunächst kaum in der Münchner Gesellschaft. Dies änderte sich erst mit den Jahren."

Wer die schnelle Information in übersichtlichen Häppchen liebt, wird am Ende des Buchs gut bedient. Džambo hat da 70 Kurzbiografien zusammengestellt, die einen Überblick bieten über die Vielfältigkeit der böhmischen Münchner. Zu denen gehörte der einstige bayerische SPD-Vorsitzende Volkmar Gabert ebenso wie der Liedermacher Karel Kryl oder der in Prag geborene Alois Senefelder, der 1797 die Lithografie erfand. Irritierend an der Prominentenliste ist, dass sie mit fünf Ausnahmen nur Männer enthält.

Jozo Džambo (Hrsg): Böhmische Spuren in München. Volk-Verlag, 280 Seiten, 19,90 Euro

© SZ vom 17.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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