Literatur:Verdruss zum Genuss

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Dieses Jahr sollte es sie geben, die Münchner Stadtmeisterschaft im Poetry Slam. Gewonnen hat sie Yannik Sellmann (Mitte). (Foto: Gabriela Neeb)

Bei der Münchner Stadtmeisterschaft im Poetry Slam ist Ausrasten erlaubt. Zumindest in den Texten, die gespickt sind mit wunderbar cholerischen Figuren.

Von Anna Steinbauer, München

Er zieht nachts durch die Straßen, die Taschen gefüllt mit Impfkanülen und spritzt sie alle so richtig durch: der "Impf". Seine Opfer: Impfverweigerer, Bayern-Spieler und sonstige Verschwörungstheoretiker. Der Impf ist eine Art Biontec-Robin-Hood. Alles, was der selbsternannte Held an Impfstoffen zu fassen bekommt, möchte er den Pandemie-Leugnern und Corona-Skeptikern in die Waden und Arme jagen. Er hat nämlich keinen Bock mehr auf "räudige Zoomcalls", er will endlich wieder Party machen. Von dieser seiner zweiten Identität als Möchtegern "Impf" erzählt Poetry Slammer Yannik Sellmann auf der Bühne des Volkstheaters, wo am Samstagabend die Münchner Poetry Slam Stadtmeisterschaft 2021 ausgetragen wurde. Die Sätze sprudeln in rasantem Tempo, Sellmanns Stimme steigert sich und erreicht schrill ihren Höhepunkt mit "Ich hab keinen Bock mehr". Es ist die so poetische wie ernst gemeinte Schimpftirade von einem, der einfach nur möchte, dass die Pandemie möglichst schnell vorbei ist und die Nase voll hat von Akzeptanz und Toleranz.

Das kann wohl jeder in diesem nur zu 25 Prozent ausgelasteten Saal des Volkstheaters bestens nachvollziehen. Lediglich 150 Leute dürfen an diesem 2G Plus-Abend den Wortspielereien der neun Kandidaten und dem Gastpoeten Friedrich Herrmann aus Jena lauschen, die Veranstaltung wäre eigentlich ausverkauft gewesen. Wie immer müssen die Texte der Dichter selbst geschrieben sein, der Vortrag darf nicht länger als sechs Minuten dauern und es dürfen keine Requisiten verwendet werden. Fünf Personen aus dem Publikum bilden die Jury, aus deren Wertung der Gewinner gekürt wird. Moderiert wird die Meisterschaft von Ko Bylanzky und seinem Thüringer Kollegen Aida, die es schaffen, aus der spärlich gesäten Zuschauerschaft den Applaus eines ganzen Saals herausholen. Letztes Jahr musste die Stadtmeisterschaft aus bekannten Gründen ausfallen. Publikum, Slammerinnen und Slammern scheint an diesem Abend bewusst zu sein, dass dies vielleicht einer der letzten Kulturtermine für die kommenden Wochen sein könnte.

Poetry Slammer Yannik Sellmann hat eine Wutfigur erfunden für den Wettbewerb: den "Impf", eine Art Biontec-Robin-Hood. (Foto: Gabriela Neeb)

Sellmanns Impf ist Balsam für die Gemüter des geplagten Pandemie-Publikums, ist er doch ein so treffender Ausdruck für einen politisch unkorrekten Aktionismus in der immer auswegloser werdenden, sich wiederholenden Situation. Kathartische Lacher sind schon bei Sellmanns ersten Worten zu hören: "Deutschland im November 2021, die Republik braucht einen Helden". Dieser starke Text, wirkungsvoll performt, katapultiert den Poeten ins Finale, wo er mit einem Text über das militärisch gedrillte Verkaufspersonal beim Brillenladen Fielmann den Meistertitel holt. Der 26-Jährige, der bereits 2017 Stadtmeister wurde, löst damit Sprachpoetin Meike Harms ab, die 2019 den Titel gewann und mit einer Liebeserklärung an ihr Fahrrad samt Beatbox und klugen Sprachspielereien als letzte Teilnehmerin des Wettbewerbs auftritt.

Ein Höhepunkt ist die Hommage an eine Butterbreze

Die Themen, die die neun Kandidatinnen in ihren Texten behandeln, sind so unterschiedlich wie ihre Vortragsweise: Von ernsten, politischen Beiträgen wie der der Slammerin Lotta Emilia, die lautstark klimaneutrales Verhalten propagiert und vorschlägt, einfach im Bett zu bleiben und zu vögeln, über Elena Calliopa, deren Text sich um Suizidalität und psychische Gesundheit dreht, bis hin zur äußerst unterhaltsamen, polemischen Jammertirade einer beleidigten Kartoffel von Marcel Schneuer. Außerdem: eine pathetische Hymne an den Hintern (Max Osswald), eine smarte Persiflage des Cro-Songs in Raphael Breuers Version "Baby, mach dir viel mehr Sorgen ums Geld" und eine ausdrucksstark-schlüpfrige Liebeserklärung an den spanischen Kindergartenerzieher seiner Tochter (Mate Tabula).

Besonderes Highlight: Die Hommage an eine Butterbreze von Philipp Potthast, der mit Schneuer und Sellmann im Slam-Finale landet. Selten ist dieser buttrige Hochgenuss unter den bayerischen "Bhagwan" mit so vielen treffenden, witzigen und lyrischen Attributen geehrt worden. Schon in der ersten Runde glänzte der bayerische Slammeister 2019 mit einem Text über den Sacharose-Zacharias, der an einem ganz normalen Tag an einem Spielplatz in Haidhausen einen Würfelzucker im Sandkasten findet und daraufhin steil geht, weil seine Bio-Hipstereltern ihrem Sprössling Süßigkeiten bisher vorenthalten haben. Sacharose-Zacharias ist wie der Impf eine grandios geslamte, genial-cholerische, lyrische Ausrasterfigur. Wenn man sich derzeit schon nicht in Realität austoben kann, dann doch wenigstens auf dem Spielfeld der Kunst.

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