Olympia in München:Weltpolitik 1972: Nixon in China, Bomben in Vietnam

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U.S. Präsident Richard Nixon besucht 1972 China. (Foto: imago images/UIG)

Das Jahr der Olympischen Spiele in München wird vom US-Präsidenten geprägt. Er leitet eine neue Entspannungspolitik ein, den Frieden in Vietnam, Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR - und sein eigenes Ende.

Von Stefan Kornelius

In der Frage der Zeitrechnung und der chronologischen Ordnung zeigte sich das Jahr 1972 großzügig. Es war die ITU-R TF.460-6, eine Richtlinie der Internationalen Fernmeldeunion, mit der im Jahr 1972 die "neue koordinierte Universalzeit" eingeführt wurde. Die Welt schlug plötzlich im selben Takt. Mit dem Zusatztag eines Schaltjahres und zwei Extrasekunden wurde 1972 zum längsten Jahr des gregorianischen Kalenders. Niemals zuvor und niemals seitdem hatten die Menschen in einem Jahr mehr Zeit.

1972 haben sie davon reichlich Gebrauch gemacht. Wenn die Gegenwart als besonders intensiv und ereignisdicht empfunden wird, dann liegt das möglicherweise nur an der Gnadenlosigkeit der Social-Media-Feeds. Mit dieser Taktung können die frühen 70er-Jahre des vorigen Jahrhunderts freilich mithalten. An Dramen mangelte es nicht: Kriege, Allianzen, Terror, Klima, der Wettlauf im Weltall - und eine ungewöhnliche Häufung an Flugzeugabstürzen mit insgesamt 2365 Toten. Auch das eine historische Höchstmarke.

Prägend für die frühen 70er-Jahre war einerseits der Geist der Offenheit und Enttabuisierung, der durch die Studentenrevolten der späten Sechziger freigesetzt wurde und viele Jahre lang eine gesellschaftliche Enteisung zur Folge haben sollte. So wie die Barbusigkeit als Symbol der sexuellen Befreiung auf den Magazintiteln gefeiert wurde (um heute möglicherweise als billiger Sexismus entlarvt zu werden), so frästen sich andere Tabubrecher durch die westlichen Gesellschaften: Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich, ein Votum im US-Kongress zur Aufnahme eines Verfassungszusatzes über die Gleichstellung von Mann und Frau (der bis heute nicht von den Bundesstaaten ratifiziert wurde), ebenfalls in den USA die Zulassung von Verhütungsmitteln für unverheiratete Männer und Frauen. Der britische Arzt und Schriftsteller Alex Comfort veröffentlichte sein Handbuch "The Joy of Sex", das - wenig erstaunlich - 70 Wochen lang unter den ersten fünf Plätzen der New York Times-Bestsellerliste rangierte. Eine deutsche Fassung kam erst neun Jahre später auf den Markt. Die erste UN-Umweltkonferenz (in Stockholm) und der Bericht des Club of Rome über die "Grenzen des Wachstums" wurden weniger beachtet.

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1972 verdichtet sich Nixons Politik im Inneren wie im Äußeren

Neben der neuen Freiheit regierten aber auch die alten Zwänge, und keiner verkörperte den Geist des Konservativismus und der USA der Nachkriegsjahre besser als deren Präsident Richard Nixon. Der Republikaner war eine besondere Erscheinung im Amt. Einerseits misstrauisch und verschlagen, kontrollsüchtig und boshaft. Andererseits ermöglichten ihm sein übersteigerter Charakter und die jahrzehntelange Erfahrung im Zentrum der Macht jene Überrumpelungstricks, die zu historischer Bedeutung reiften. 1972 verdichtete sich Nixons Politik im Inneren wie im Äußeren - das Schlüsseljahr seiner fünfeinhalbjährigen Präsidentschaft.

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Von größter strategischer Bedeutung war Nixons Entschluss, auf die Avancen der Volksrepublik China einzugehen und die Normalisierung der Beziehungen einzuleiten. 1971 erreichte die amerikanische Tischtennismannschaft eine Überraschungseinladung in die Volksrepublik China. Die Ping-Pong-Diplomatie im April wurde von gewaltigem Interesse begleitet - zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg setzte eine US-Delegation einen Fuß auf den Boden der Volksrepublik. Kurz darauf reiste Nixons Sicherheitsberater Henry Kissinger in klandestiner Mission für wenige Stunden nach Peking, um den Coup vorzubereiten: Er täuschte in Pakistan eine Magenverstimmung vor, zog sich vermeintlich auf einen Landsitz zurück und flog heimlich los.

Das Weltbild von mehr als einer Milliarde Menschen gerät plötzlich ins Wanken

Nixon selbst fuhr dann vom 21. bis 28. Februar 1972 nach Peking, Hangzhou und Shanghai - ein Sensationsereignis der Weltpolitik. Nach zwei Jahrzehnten wüster antiamerikanischer Politik und propagandistischer Feindaufladung hatte sich Parteiführer und Diktator Mao Zedong zu einer abrupten Kehrtwende entschieden - unter dem Eindruck der sowjetischen Machtballung an der chinesischen Westgrenze und in Furcht vor einer Invasion. Nixon, ein Kommunistenfresser alter Schule, erkannte sofort die Chance und reiste. Das Bild vom Handschlag mit Mao wurde zum Symbol einer neuen Öffnungspolitik und einer Gegenbewegung zur Logik des Kalten Krieges, die auf Abschreckung und Drohung basierte. Der Imperialist und Klassenfeind traf den Urvater des Sinokommunismus und Menschenschlächter - das Weltbild einer Milliarde Chinesen, aber auch vieler Hundert Millionen Westler geriet ins Wanken. "Diese Woche hat die Welt geändert", wurde Nixon später zitiert, und im Amerikanischen setzte sich die Metapher fest: "Only Nixon could go to China" - so einen Coup kann nur einer landen, der mit allen Fasern seines Daseins für das Gegenteil steht.

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In den Wirbelschleppen des China-Flugs entwickelte sich die Konstellation des Kalten Krieges rasant weiter - der Antagonismus zwischen dem demokratisch-kapitalistischen Westen und dem poststalinistisch-kommunistischen Sowjetblock. Im April starteten die Nordvietnamesen im asiatischen Stellvertreterkrieg der Supermächte ihre große Osteroffensive, die den Süden und die USA als Kriegspartei massiv in Bedrängnis bringen sollte. Washington nahm daraufhin das Bombardement von Hanoi und Haiphong wieder auf. Kurz darauf entstand das ikonografische Bild des Vietnam-Krieges - die neunjährige Phan Thi Kim Phuc, von Napalm verbrannt, läuft mit ausgebreiteten Armen eine Straße hinunter.

Kissinger verkündet, dass ein Frieden im Vietnamkrieg in Sicht ist

Die Offensive war als Präludium für die parallel laufenden Friedensverhandlungen in Paris gedacht und sollte die Verhandlungsposition des Nordens stärken. Im November verkündete Kissinger in Paris, dass ein Friedensschluss nun in Sicht sei.

Nixon nutzte die Gelegenheit zu dem zweiten, spektakulären Coup des Jahres: Am 26. Mai unterzeichnete er in Moskau mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew den ersten Rüstungskontrollvertrag der Supermächte. Das über Jahre vorbereitete Rüstungskontrollabkommen Salt I sah vor, die Fähigkeit zur Raketenabwehr zu beschränken, um keinen einseitigen Vorteil im "Gleichgewicht des Schreckens" zu erlauben. Außerdem wurde vereinbart, die Zahl der Langstreckenraketen für fünf Jahre einzufrieren. Der erste Schritt in der Rüstungskontrolle und im Ost-West-Dialog war gemacht, die folgenden Jahre sollten die Helsinki-Gespräche und viele neue Ideen der Entspannungspolitik bringen.

Nixon wurde im Juni von der Innenpolitik eingeholt - die Polizei verhaftete fünf Mitarbeiter des Weißen Hauses beim Einbruch in die Wahlkampfzentrale der Demokratischen Partei. Später erst sollte das ganze Ausmaß des Überwachungsapparats Nixons bekannt werden. Nixon wurde zwar im November wiedergewählt, Watergate wollte aber nicht weichen und trieb ihn 1974 zum Amtsverzicht.

Ein überdimensioniertes Jahr, zwei Sekunden länger als üblich, garniert mit der letzten Mondmission, dem Beginn der Spaceshuttle-Ära und der ersten Spielekonsole. Wie treffend, dass pünktlich zu den Olympischen Spielen einer der größten bisher gemessenen Sonnenstürme das Magnetfeld der Erde traf, Telefonverbindungen und Satelliten lahmlegte und ein paar Seeminen detonieren ließ.

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