Missbrauch in Heimen:Verantwortung für das Leid Tausender Kinder

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Die Missbrauchsfälle in Heimen und Pflegefamilien sollen von einer Expertenkommission untersucht werden. Das Rathaus nimmt sich damit die breiteste Aufarbeitung von Missbrauch vor, die es in München je gab.

Von Bernd Kastner und Rainer Stadler, München

Es ist Punkt 13 auf der Tagesordnung am Dienstagvormittag, der letzte im öffentlichen Teil der Sitzung des Kinder- und Jugendhilfeausschusses im Stadtrat. Es geht um die Aufarbeitung des Missbrauchs an Mädchen und Jungen, die in früheren Jahrzehnten in der Obhut der Stadt München lebten. Gerade mal zwölf Minuten sprechen die Stadträtinnen und Stadträte darüber, dann beschließen sie, was das Sozialreferat vorschlägt und was es so bislang in München noch nie gegeben hat: Die Stadt startet eine umfassende Aufarbeitung der Missstände in den Jahren von 1945 bis 1999, nicht nur in den drei städtischen Kinderheimen, sondern auch in nicht-städtischen Häusern sowie in Pflege- und Adoptivfamilien. Dafür will die Stadt eine unabhängige, multiprofessionelle Expertenkommission einrichten und mit Recherche und Aufarbeitung ein wissenschaftliches Institut beauftragen. Was sich das Rathaus vornimmt, ist die breiteste Aufarbeitung von Missbrauch, die es in München je gegeben hat.

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Unabhängig von der kommenden Untersuchung muss die Stadt nun sehr schnell missbrauchte Menschen unterstützen - denn vielen von ihnen läuft die Zeit davon.

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Sozialreferat und Stadtrat reagieren auf einen Antrag der grün-roten Mehrheitsfraktionen, die im Februar die Aufarbeitung von Missbrauch gefordert hatten. Anlass dafür war ein SZ-Artikel über ehemalige Heimkinder, die von Missbrauch und Misshandlung nicht nur im städtischen Heim in Oberammergau berichten, sondern auch von sexualisierter Gewalt in Feldafing. Das dortige Haus Maffei wurde bis 1972 vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern betrieben, das Stadtjugendamt brachte dort Kinder unter. Betroffene und ihre Unterstützer äußern den Verdacht, dass es in den Sechziger- und Siebzigerjahren eine Art Missbrauchs-Netzwerk zwischen München, Feldafing, Oberammergau und dem Kloster Ettal gegeben haben könnte.

Vertreter von Grünen, SPD und CSU begrüßten den Aufarbeitungsplan, es äußerte sich aber allein Christian Müller, SPD-Fraktionschef und Sitzungsleiter, ausführlicher. Er ließ Selbstkritik am bisherigen Agieren der Stadt anklingen. Es sei zwar "verdienstvoll" gewesen, dass die Stadt bereits vor knapp zehn Jahren die Aufklärung der Geschehnisse in den eigenen Heimen angestoßen habe, nachzulesen im 2014 erschienenen Buch "Weihnachten war immer sehr schön". Leider habe sich später gezeigt, sagte Müller, dass "die Tiefe nicht ganz so war, wie sie hätte sein sollen". Damit spielte er darauf an, dass diese erste Untersuchung an der Oberfläche blieb; die Stadt hatte nur eine einzige Historikerin mit der Recherche beauftragt. Man hätte, sagte Müller, schon damals weitere externe Experten in die Untersuchung einbeziehen und die Ergebnisse stärker wissenschaftlich aufarbeiten sollen.

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Zwar habe sich das Jugendamt unter der damaligen Leiterin Maria Kurz-Adam "nicht weggeduckt"; man sei insgesamt der Meinung gewesen, dass die Art der Aufarbeitung "ausreichend wäre". Tatsächlich aber habe die Stadt das Leid der Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt.

Stadt will auch finanziell Verantwortung übernehmen

Müller kündigte an, dass sich die Stadt nun auch finanziell ihrer Verantwortung stellen werde. Ein solches Versprechen hatten der Stadtrat und der damalige Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) den Betroffenen bereits 2011 und 2013 gegeben: Man kündigte damals an, in den Bundesfonds zur Entschädigung von Heimkindern einzuzahlen. Dies ist aber nie geschehen, wie die Stadt auf eine SZ-Anfrage einräumte: Der Freistaat hatte den städtischen Anteil für den Fonds übernommen. Bis heute hat die Stadt keine Entschädigung, direkt oder indirekt, an die Betroffenen gezahlt. Müller bat das Sozialreferat, sich nun auch über die finanzielle Entschädigung Gedanken zu machen. In der aktuellen Vorlage für den Stadtrat ist dieses Thema nur sehr knapp und beiläufig erwähnt. Die Stadt wolle sich dieses Geld nicht sparen, betonte Müller: "Wir müssen uns dieser Verantwortung vollumfänglich stellen."

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Weil Grün-Rot ausdrücklich fordert, dass auch untersucht wird, ob es ein pädophiles Netzwerk gegeben habe, will die Stadt nicht nur Kinderheime beleuchten, sondern auch untersuchen lassen, was Kindern widerfahren ist, die das Jugendamt in Pflege- und Adoptivfamilien geschickt hatte. Es geht insgesamt um das Schicksal vieler Tausend Kinder. Auf Wunsch von Grünen und SPD soll die Untersuchungskommission geschlechterparitätisch besetzt werden; aus dem Kreis der Betroffenen sollen statt einer Person, wie bisher geplant, zwei Vertreter berufen werden. Zudem solle die Kommission Kontakt aufnehmen zu anderen Institutionen, die bereits an der Aufarbeitung von Missbrauch arbeiten.

© SZ vom 07.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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