Missbrauch in Münchner Heimen:Erschrocken ob der Ignoranz

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Rathaus München: Die Missbrauchsfälle in Heimen sollen nun endlich aufgeklärt werden. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Unabhängig von der kommenden Untersuchung muss die Stadt nun sehr schnell missbrauchte Menschen unterstützen - denn vielen von ihnen läuft die Zeit davon.

Kommentar von Bernd Kastner

Wenn die Stadt München mit der katholischen Kirche verglichen wird, ist das nicht gerade schmeichelhaft, schon gar nicht, wenn es um Missbrauch geht. Die Stadt aber muss sich diesen Vergleich gefallen lassen. Seit Langem weiß sie, dass Mädchen und Buben in den städtischen Heimen missbraucht und misshandelt wurden. Schon vor zehn Jahren hat die Stadt Aufarbeitung und Entschädigung versprochen, hat mit Recherchen begonnen - ist aber auf halbem Wege stehen geblieben.

Das erinnert an das Agieren der Kirche, die die Missbrauchsaufarbeitung seit Jahren verschleppt. Hier die Bischöfe und Generalvikare als Verantwortliche - dort die Oberbürgermeister, die Spitzen des Sozialreferats, die Stadträte. All diese städtischen Akteure haben sich in den vergangenen Jahren nicht mehr um die ehemaligen Heimkinder gekümmert. Statt Vorwürfen nachzugehen, legte man die Akten beiseite. Protest blieb aus, Heimkinder haben keine Lobby.

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Nun wirkt es, als seien einige der heute Verantwortlichen erschrocken ob der jahrelangen Ignoranz. Als Reaktion auf neue Recherchen zu Missbrauch in den 60er- und 70er-Jahren von Kindern, die in Verantwortung des Jugendamtes untergebracht waren, will die Stadt das Geschehen umfassend untersuchen. Das geschieht sehr spät, für viele Betroffene zu spät. Einige sind verstorben, andere leben, psychisch angeschlagen, am Existenzminimum und im Gefühl, denen da oben egal zu sein.

Trotzdem ist es gut und richtig, dass die Stadt nun ihre wohl letzte Chance nutzen und das in ihrem Namen geschehene Unrecht aufarbeiten will. Das Rathaus nimmt sich die größte Untersuchung zum Thema Missbrauch vor, die es in München je gab. Sie will eine multiprofessionelle Kommission einsetzen und die Verbrechen wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Dass sie dabei auch nicht-städtische Heime in den Blick nimmt, und auch Pflege- und Adoptivfamilien, verdient Anerkennung.

Und doch, es fehlt noch etwas Wichtiges. Während die Kirche vielen missbrauchten Menschen wenigstens ein paar Tausend Euro zukommen ließ, vergaß man im Rathaus schlicht, was man den Betroffenen versprochen hatte: sich auch finanziell der Verantwortung zu stellen. Das ist nicht nur peinlich für Stadtrat und Stadtspitze. Es ist eine weitere Missachtung des Leids der ehemaligen Heimkinder. Unabhängig von der bevorstehenden Untersuchung muss sich die Stadt jetzt ganz schnell überlegen, wie sie die Betroffenen finanziell unterstützt. Viele brauchen diese Hilfe, zumindest diese. Ihnen läuft die Zeit davon.

© SZ vom 07.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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