Alter Simpl:Anekdoten, die nur so herauspurzeln

Lesezeit: 7 min

Toni Netzle feiert ihren 90. Geburtstag. (Foto: Stephan Rumpf)

Elvis, Ellington, Eichinger: Toni Netzle machte den Alten Simpl von 1960 an zu Münchens erstem Promi-Lokal und prägte so mehr als drei Jahrzehnte lang die Stadt mit. Nun feiert sie ihren 90.Geburtstag.

Von Philipp Crone

Sie sagt am meisten, wenn sie nichts sagt. Toni Netzle sitzt vor einer Woche in ihrem Arbeitszimmer und blickt auf ihr Leben zurück. Darin ist bislang so viel passiert, dass die frühere Wirtin des Alten Simpl seit Jahren Leseabende veranstaltet. Dann spricht sie. Über Duke Ellington, der schüchtern fragte, ob er am Flügel spielen dürfe. Über den Produzenten Bernd Eichinger, der an seinem Geburtstag ohnmächtig nach Hause getragen werden musste, oder die Straßensperre für Brigitte Bardot. Über diesen Kristallisationspunkt für Klatsch- und Ratschgeschichten in Schwabing in den Sechziger- und Siebzigerjahren.

Die Anekdoten kullern wie aus einem Sack Murmeln aus ihr heraus. Netzle schaut ab und an auf ihre Bücherwand. Dann wird sie still. Sie hat Angst. "Dass ich das noch einmal erleben muss", sagt sie. Sie meint nicht das Corona-Virus. Sie meint "das braune Erwachen", das Wiederaufleben nationalsozialistischer Umtriebe.

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Netzle ist eine routinierte Rednerin, trainiert über Jahrzehnte, als geradezu magnetische Gastgeberin. Mit ihr kann man aber auch darüber sprechen, wie es ist, statt viele Menschen um sich zu haben nun vor allem alleine zu Hause zu sein. Sie kennt das, seit Jahren, sie liest, schreibt an ihren Büchern.

Schauspielerin wollte sie ursprünglich werden, wollte auf Bühnen oder vor Kameras stehen. Was sie geworden ist, war eine Stand-up-Darstellerin, die jedem ihrer Besucher im Simpl die gewünschte Rolle bot, die er oder sie sich als Gegenüber gerade wünschte. Sie konnte alles vermitteln. Strenge, Nachsicht, Klamauk.

Toni Netzle lehnt sich in ihrem Sessel zurück und fängt noch einmal von vorne an. Mit einem der ersten Zufälle, mit einem großen glücklichen Zufall für die Stadt. Als die Anwaltskanzlei ihres Vaters im Jahr 1960 mit der Nachricht kam, dass im Simpl ein neuer Wirt gesucht würde. Das Büro hatte den Hausbesitzer als Mandanten. Netzle aber war wild entschlossen, mit der Schauspielerei ihr Leben zu verbringen, hatte die erste Klasse der Falckenberg-Schule besucht. "Ich kann das nicht", sagte sie zur Frage nach dem Simpl, "ich kann ja Rot- und Weißwein nur nach der Farbe unterscheiden und habe noch nie einen Tropfen Alkohol getrunken." Hat sie bis heute nicht, die Teetasse ist in der Wohnung immer in ihrer Nähe.

Netzle wurde damals geschickt gelockt. Mit einer kleinen Bühne im Simpl. Eine eigene Bühne für sie. Also sagte sie zu und begann das Wirtsein zu lernen. Wobei schnell klar war: Man muss etwas nicht immer perfekt können, um es zu machen. Was sie nicht konnte, war zählen, wirtschaften. Was sie konnte, war das Unterhalten. Ihre erste Rolle: die Anfängerin, die sich aber, obwohl ahnungslos, von niemandem etwas sagen lässt und allein dadurch Sympathie und Unterstützung bekommt. Der ging schon auch mal eine Zutat aus. Wie in jedem normalen Haushalt eben.

Zunächst kamen Anfang 1960 nicht viele Gäste, der frühere "Simplicissimus" mit Stammbesuchern wie Ringelnatz war zwischenzeitlich von wechselnden Pächtern mit wechselnden Namen beinahe ruiniert worden. Netzle zapfte los im Simpl, die ersten Schauspielkollegen kamen, dann brachte ihr Lebensgefährte Musiker mit. Und dann gab es den zweiten Zufall. Duke Ellington.

"Ich hatte einen Freund, der Toningenieur war", sagt sie. Netzle beginnt oft Sätze mit: "Ich kannte jemanden" oder "Ich hatte eine Freundin, die". Der Toningenieur war in einem der wenigen Live-Clubs der Stadt engagiert, im Deutschen Museum. Er bekam einen guten Sound hin, die in München stationierten Amerikaner brachten gute Musiker mit, und schon lief der Laden. Und wenn er irgendwann am frühen Morgen zusperrte, fragten die Amerikaner ihren Toningenieur, wo man noch hingehen könne. Na, in den Alten Simpl. Auf dessen Bühne wurde gejammt, "manchmal bis morgens um neun". Die Musiker also kamen, und dementsprechend die Musikverleger wie etwa Ralph Maria Siegel, Vater von Ralph Siegel. Der schenkte Netzle einen Flügel, einen mit Barhockern drum herum. Wie man ihn in Amerika zu der Zeit in den Bars haben musste.

1961 kam dann der befreundete Toningenieur mit einem Begleiter, und das war Duke Ellington. Ellington sah den Flügel und fragte schüchtern, ob er spielen dürfe. In Amerika durfte er das laut Musikergewerkschaft nicht. "Da galt, dass der bessere Musiker anderen nicht die Show stehlen darf", sagt Netzle. Um so mehr genoss er den Auftritt im Simpl. Er wurde lang. Die Nachricht sprach sich sofort herum. Am nächsten Tag war der gute Ruf des Simpl etabliert.

Netzle schnauft hörbar zwischen den Sätzen. Stift und Zettel liegen immer bereit im Arbeitszimmer, diverse Ideen und Projekte stehen an derzeit. Zwei Bücher hat sie bereits veröffentlicht, zwei weitere will sie schreiben. "Schreiben und lesen, zwei sehr nützliche Dinge derzeit", sagt Netzle. Der Kugelschreiber fällt ihr einmal auf den Boden. Sie hebt ihn innerhalb von einer Sekunde auf, als wäre sie nicht 90, sondern 19. Dann rollen die Story-Murmeln wieder weiter. Der Abend mit Elvis Presley.

Das war 1959, noch vor der Simpl-Zeit. Netzle hatte auch da schon überall Freundinnen und Freunde. Eine davon war mit dem Musiker bekannt. Und Elvis war in der Stadt und wollte ausgehen. Man traf sich in der Maximilianstraße, heimlich, die GIs durften nicht um die Häuser ziehen. "Naked women" habe Elvis sehen wollen, schreibt Netzle in ihrem Buch "Mein Alter Simpl". Also gingen sie ins "Moulin Rouge" in der Herzogspitalstraße. Champagner und Kaviar wurden gereicht, aber kein Alkohol für Presley. Er bekam Tomatensaft.

Zu der Zeit war Netzle bereits zweifache Mutter, sie hatte 1951 geheiratet, einen Musiker eben. Sie ließ sich scheiden, da war die Tochter zehn und ihr Sohn sieben Jahre alt. Und dann brauchte sie einen festen Job anstelle von wechselnden Engagements. Auch deshalb sagte sie am Ende beim Simpl zu. Alleinerziehend mit zwei Kindern. Wie ging das?

Indem Netzle das alte Personal rekrutierte. Denn überzeugend war sie schon immer. Drauflos, mit derart viel Zuversicht und Überzeugung, dass zum einen alle gar nicht anders konnten, als mitzumachen. Allein schon, um eine Katastrophe zu verhindern. Heute sagt sie: "Hätte ich nicht das Erbe meiner Großmutter gehabt, wäre ich schnell pleite gegangen." Die Gäste riefen ihr allzu oft am Ende fröhlich zu: "Ich bezahle morgen!" Für all die unbezahlten Rechnungen hätte sie sich ein schönes Haus in München kaufen können, sagt sie. Aber auch: "Das war es alles wert."

Der Begriff Wohnzimmer wird heute für jede Boazn bemüht, die auch nur einen Ansatz von Flair hat. Jeder will Wohnzimmeratmosphäre in seinem Lokal. Aber Netzle hatte sie wirklich. In einem Laden, der weder schön noch heimelig war. Unbewusst hatte sie aber die beiden größten Trümpfe in der Hand: gutes und loyales Personal und ihre Fähigkeit als Unterhalterin. Man wollte in den Simpl, zunächst, um Netzle zu erleben. Diese kleine Frau, die mit ihren Augenbrauen so böse oder so fröhlich schauen konnte, dass Theo Waigel dagegen blass aussähe. Der war später natürlich auch da.

Nachdem Ellington und die Musiker den Laden bekannt gemacht hatten, lief 1961 die übliche Prominentenkaskade ab: Es kamen weitere Musiker, es kamen weitere Schauspieler, es kamen welche, die die anderen sehen wollten. Dann kamen irgendwann die Journalisten, die über die Begegnungen schreiben wollten. Da fuhr Netzle eine harte Linie: "Journalisten durften nichts Böses aus dem Simpl schreiben, sonst bekamen sie Hausverbot." Dabei gab es schon viel Berichtenswertes. Zum Beispiel über den Fastrauswurf von Robert De Niro und Harvey Keitel. "Das war 1980, die haben ausgeschaut wie die Penner und mein Laden war wahnsinnig voll." Netzle kannte Keitel nicht, und De Niro hatte gerade 25 Kilo abgenommen. "Und weil wir gerade viele Penner in der Türkenstraße hatten, habe ich die verwechselt." Bevor sie die beiden allerdings rauswerfen konnte, saßen die schon an einem Tisch mit amerikanischen Filmproduzenten. "Und da hab ich mich dann gewundert, warum die Penner Englisch gesprochen haben." So war das damals eben noch, da kamen die Hollywood-Stars einfach zur Tür rein, oder Franz Josef Strauß. Ganz ohne Personenschützer und Suchhunde.

Netzle ist auf den alten Bildern von damals immer die kleinste Person, aber man spürt die Anziehung, die das Lachen in ihrem Gesicht und die wild herumhüpfenden Augenbrauen gehabt haben mussten. Auch auf Brigitte Bardot. Sie kam 1968 zur Premiere ihres Films "Shalako" nach München und feierte die Party natürlich im Simpl. Wenn Netzle davon erzählt, hört man sofort, wie sehr sie den Klatsch liebt und den Tratsch. Beim Bardot-Besuch vermuteten einige, die Schauspielerin würde das Fest nur geben, um ihren Ex-Mann anzulocken, Gunter Sachs.

Der kam nicht, dafür wollten offenbar alle anderen Menschen dieser Stadt kommen. Der rote Teppich ging bis auf die Straße, selbige gesperrt, Wildwest-Deko drinnen, verschiedene Champagner-Sorten für verschiedene Gäste. Bardot bevorzugte Dom Perignon. Monatelang wollten Leute anschließend an dem Tisch sitzen, wo die Bardot gesessen hatte.

Netzle lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Sie war und ist so gerne Gastgeberin, weil sie das Dialog-Duell liebt. Mit 90 Jahren Lebenserfahrung hat sie ein großes Arsenal an Anekdoten, aber noch lieber, als in ein "die Oma erzählt von früher" zu verfallen, provoziert sie. Zum Beispiel mit ihrem vernichtenden Urteil über den heutigen Alten Simpl: "ein Kommerzladen". Gut, Netzle geht auch seit Jahrzehnten nicht mehr aus, ging sie eigentlich noch nie, eben immer nur in ihr Wohnzimmer in der Türkenstraße. Wenn sie noch ausginge, wüsste die Wirtin, dass man um Etablissements wie den Alten Simpl froh sein muss. Ein Lokal, mit bayerischer Karte und Münchner Publikum. Kommerzläden gibt es viele, der alte Simpl gehört nicht dazu. Es ist vielmehr ein erhaltenswertes Boazn-Biotop mit so wunderbaren Einrichtungen wie der Fleischpflanzerl-Runde.

Es klopft, und Netzles Lebensgefährte schaut kurz rein. Die Augenbrauen verengen sich kurz. Dann lächelt sie wieder. "Mit meinem Mann bin ich jetzt seit 57 Jahren nicht verheiratet." Dann rollt sie noch einen letzten Schusser aus. Den Eichinger.

Der Filmproduzent hat einmal seine eigene Feier verpasst im Simpl, seinen 30. Geburtstag, weil es ihm "so dreckig ging", und nicht einmal Netzles Fitmacher, Mokka und Wodka, konnten ihn wiederbeleben. Die Feier fand ohne Eichinger statt.

Es gibt so viele Geschichten, Kinderfasching mit Bayern-Kickern oder Gina Lollobrigida. So viele, dass Netzle ein zweites Buch schreiben musste. Die Leute sehnen sich nach dem Klatsch zur Zeit der Schwarz-Weiß-Fotos. Als alles noch einfacher war oder zumindest so schien. Als man ohne Ahnung von Geld Wirt werden konnte.

Die Kugeln sind ausgerollt. Netzle ist traurig, dass sie nicht feiern kann. Über Corona sagt sie: "Das wird noch schlimm." Aber sie weiß auch nicht mehr als alle anderen. Nur ein gutes Gefühl für Situationen, Menschen und Momente hatte sie immer. Und deshalb ist es vielleicht auch etwas beruhigend, wenn sie vor der nächsten Zeit und der grassierenden Krankheit nicht so viel Angst hat. Netzle hat einen Krieg erlebt. "Alles nur, weil Menschen Macht haben wollten und wollen." Sie sorgt sich nicht wegen Corona. Sie verstummt. Und dann sagt sie. "Das geht vorbei, aber die braune Gesinnung, die kommt gerade erst wieder."

© SZ vom 24.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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