Vor ein paar Tagen hatte Oren Osterer ein paar Freunde bei sich zu Hause bewirtet, und weil eine Menge vom Essen übrig geblieben war, gab Osterers Frau den Gästen noch ein paar Köstlichkeiten, verpackt in einer Tüte, mit auf den Weg. Auf der Tüte waren hebräische Buchstaben abgedruckt, was nichts Besonderes ist im Hause Osterer, denn der Münchner Historiker, Medienwissenschaftler und Politologe ist Jude; er ist oft in Israel und an diversen Projekten beteiligt, die mit dem Judentum, mit Israel oder dem Kampf gegen Antisemitismus zu tun haben.
Als Osterer die hebräische Schrift auf der Tüte registrierte, durchfuhr ihn ein seltsamer Gedanke, den er auch äußerte: Sollte man die Tüte nicht austauschen gegen eine ohne Aufschrift? Wie, sagte einer der Freunde, muss man jetzt wirklich wieder so vorsichtig sein? Osterers Frau, so erzählt er, habe abgewunken, "ach Quatsch", und so unterblieb der Tausch. Den Freunden ist dann auch nichts passiert. Aber Osterer sagt: "Diese Überlegung wäre mir früher wahrscheinlich nie durch den Kopf gegangen."
Was ist da geschehen? Nun, einige Tage zuvor waren ein Rabbiner und seine Söhne in der Hohenzollernstraße mit antisemitischen Sprüchen von einem Obdachlosen angepöbelt worden, eine Frau hatte sich eingemischt und einem der jungen Männer ins Gesicht gespuckt, was diese aber bestreitet. Ein Einzelfall? Wenn es nur so wäre. Es ist aber nicht so. Dem bayerischen Innenministerium zufolge wurden im vergangenen Jahr 86 antisemitische Straftaten in der Stadt oder im Landkreis München registriert, es mehren sich judenfeindliche Beiträge im Internet, Hass- und Drohmails werden verschickt, Wände mit antisemitischen Parolen beschmiert.
"Es kommt immer mal vor, dass ich denke, ich gehe nach Israel", sagt Stadtrat Marian Offman, der auch im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern ist. Gewiss, das ist ein spontaner Gedanke, meist ausgelöst durch einen antisemitischen Vorfall. Den Gedanken verwirft Offman dann auch rasch wieder. Und doch sagt er: "Es ist auf alle Fälle nicht mehr dieses leichte, glückliche Gefühl, das ich mal hatte in Anbetracht der Entwicklung des jüdischen Lebens hier."
Terry Swartzberg, der gerne mit einer Kippa durch die Stadt geht, ist weniger besorgt: "Juden sind unspektakulär geworden für die meisten Deutschen, sie sind ihnen relativ gleichgültig. Die Deutschen sind nicht antisemitisch, und die Münchner erst recht nicht, die haben gar keine Zeit dafür, die schauen lieber in ihre Telefone."
Als im November 2006 die neue Hauptsynagoge Ohel Jakob am Sankt-Jakobs-Platz eröffnet wurde, sagte Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, nunmehr seien die Juden in der Mitte der Stadt und in den Herzen der Menschen angekommen. "Wir Juden sind wieder ein Teil dieses Landes, unseres Landes, wir haben gebaut, wir bleiben, und wir gehören hierher." Knapp 13 Jahre später konstatiert Knobloch, die Attacke in der Hohenzollernstraße "ist leider symptomatisch für die schwierige Situation vieler jüdischer Menschen in der heutigen Zeit". Und sie fügt hinzu: "Sicherheit im öffentlichen Raum, die für alle Bürger selbstverständlich sein sollte, rückt gerade für Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in immer weitere Ferne."
Diese Verunsicherung spürt man auch als Reporter, denn es erweist sich als ungewöhnlich schwierig, jüdische Münchner zu finden, die bereit sind, ihre Befindlichkeit publik zu machen. Sorgen, Unbehagen, mitunter Ängste sind allenthalben zu spüren.
Marian Offman ist es gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen. Rund 17 Jahre war er in den Reihen der CSU im Stadtrat gesessen, kürzlich ist er, nachdem sein CSU-Kreisverband ihn nicht mehr für die nächste Wahl nominiert hatte, der SPD beigetreten. In der CSU, das sagt er selbst, war er ein "Exot". Mehr als in der Partei üblich setzt er sich für Flüchtlinge, für Muslime und gegen den Rechtspopulismus ein.
Für Rechtsextremisten ist er gleich in mehrfacher Hinsicht ein Feind: Jude, Muslimversteher, Antifaschist. Und so steht er als "anti-weißer Verräter", markiert mit einem Judenstern, auf der antisemitischen Internetseite "Judas-Watch". Auch auf einem "Steckbrief" der Hetzseite "Nürnberg 2.0" ist Offmans Name zu lesen. Als er erfuhr, dass er am digitalen Pranger der Neonazis steht, kam wieder der altbekannte Gedanke auf: Auswandern. Nach Israel. Es ist Zeit. Aber es gibt ja noch eine andere Erfahrung, eine, die Offman in München hält: "Wenn ich eine Führung durch die Synagoge mache, und ich habe schon Tausende von Menschen durch die Synagoge geführt, dann erfahre ich nur Zustimmung."
Und wenn er einerseits spürt, dass mit dem Aufstieg der AfD, einer "völkisch orientierten Partei mit Antisemiten und Rassisten", ein "völlig neues Klima" entstanden ist, so registriert er andererseits, dass die "überwältigende Mehrheit" der Münchner das Miteinander will. "Ich bin nicht alleine. Nur die Luft ist schon etwas dünner geworden."
Die Soziologin Ruth Zeifert kommt aus Frankfurt und lebt seit elf Jahren in München. Damals hatte sie auf einer Israel-Reise eine Gruppe Münchner kennengelernt, die sich besonders für Israel eingesetzt hat. Das hat ihr imponiert, und nicht nur das: In einen Mann aus der Gruppe hat sie sich verliebt, die beiden wurden ein Paar, und Ruth Zeifert zog nach München, in eine Stadt, die "für mich ein total linkes Pflaster war", pro-jüdisch, pro-israelisch und tolerant. Und im Grunde empfindet sie das heute noch so, aber gleich macht sie eine Einschränkung: "Das ist nur so eine Blase, in der ich lebe. Die Menschen, mit denen ich zusammen bin und auch politisch arbeite, stehen für das, wofür ich auch stehe. In meiner Blase bin ich sehr beschützt, ich fühl' mich nicht unsicher."
Doch es gibt auch ein Leben außerhalb der Blase, vor allem, wenn man zwei Töchter hat, die in die Schule gehen. Als in der Grundschule ein Trachtentag angesagt war, wollte auch die siebenjährige Tochter ein Dirndl anziehen. Die Mutter aber ließ sie nicht. Warum? Bei Ruth Zeifert, deren in Danzig lebende Großeltern 1933 rechtzeitig emigriert sind, wecken Dirndl und Lederhose ungute Assoziationen. Sie muss an die Nazis denken, die die Tracht zu einer deutschnationalen Uniform gemacht hätten. Also kein Dirndl, was für die Tochter nicht ganz einfach war, wenn fast alle Klassenkameradinnen eines trugen.
Überhaupt irritiert es Zeifert, wie bedenkenlos die Deutschen wieder Nationalstolz zur Schau tragen, als hätte es den Holocaust nie gegeben. Der "Knackpunkt" war für sie die Fußballweltmeisterschaft 2006: "Dieser Stolz, deutsch zu sein und massenhaft ,Deutschland' zu schreien - da krieg ich heute noch eine Gänsehaut." Zeifert empfand das so: Da wird ein Tabu gebrochen. Und gleichzeitig brechen Dämme: "Es werden im politischen Diskurs Sätze gesagt, die als unsagbar galten." Dazu die unausrottbaren Vorurteile: Als Zeifert einer Dame erzählte, sie schreibe über Judentum, kam die Antwort: "Oje, die Juden sind ja die, die das ganze Geld auf der Welt haben, und sie sind auch noch geizig."
Knapp zwei Wochen nach der Pöbelei gegen den Rabbiner und seine Söhne kamen am Ort des Geschehens rund 60 Menschen zusammen, um gegen den Antisemitismus zu protestieren. Max Brym, Jude, Autor und Mitglied der Linken, hatte kurzfristig dazu aufgerufen; die Demonstranten hielten ein Plakat mit der Aufschrift "Antisemitismus kotzt uns an". Nur wenige Passanten blieben stehen, um Bryms Rede zu hören, in der er den Rechtsruck beklagte und erzählte, dass viele Münchner Juden die Kippa erst aufsetzen, wenn sie die Synagoge betreten haben, und sie ablegen, noch bevor sie wieder ins Freie gelangen.
Diese Vorsicht, dieses Bemühen, nicht zu zeigen, dass man Jude ist, hält Terry Swartzberg, der in New York aufwuchs und der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom angehört, für falsch: "Meine Botschaft ist: Wir haben die Pflicht, rauszugehen und zu zeigen, dass wir keine Angst haben. Sonst gibt es immer diese Opferhaltung." Genau deshalb hat er begonnen, mit der Kippa durch die Stadt zu gehen: "Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich keine Angst habe." Und nach ein paar Monaten, in denen nichts passiert ist, habe er gemerkt, wie befreiend das sei. "Ich habe gesagt, das würde allen gut tun. Wir haben viele Freunde, also lasst uns rausgehen und sagen, hier sind wir, damit die Menschen sehen, da sind Juden, und kuck mal: Sie sind fröhlich, und sie sind stolz, und es macht Freude, jüdisch zu sein."
Ganz so optimistisch betrachtet Oren Osterer die Sache nicht. Osterer ist in Köln aufgewachsen, von sich selbst sagt er, er habe "einen sehr bewussten Identitätsteil, der jüdisch ist, aber ich bin nicht religiös". Als er 2008 nach München kam, zwei Jahre nach der Einweihung der Synagoge, hatte er das Gefühl, "dass die Juden sich hier wieder heimisch fühlen, dass sie die bekannten gepackten Koffer wieder auspacken". Als aber im Sommer 2014 der Konflikt zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen blutig eskalierte, gab es, sagt Osterer, "bundesweit einen großen Bruch mit unsäglichen Demonstrationen und offen antisemitischen Parolen".
Seitdem seien gewisse Hemmschwellen gefallen, auch in puncto Israel, nach der Devise: "Ich habe ja nichts gegen Juden, ich hab' nur was gegen Israel." Tatsächlich, sagt Osterer, schwinge da eine generelle Aversion gegen Juden mit. Diese Form eines latenten Antisemitismus, der sich hinter der Kritik an der israelischen Politik versteckt, sei nicht zuletzt in linken sowie in muslimischen oder islamistischen Kreisen zu finden. Persönlich bedroht worden, ob nun von links oder rechts, sei er aber noch nicht - auch, wie Osterer vermutet, weil er als Jude nicht erkennbar sei und er sich im eher linken und linksliberalen Milieu bewege. "Aber ich merke schon, dass in der jüdischen Community die Verunsicherung wächst. Schon möglich, dass die ausgepackten Koffer langsam wieder gepackt werden."