Literatur:Von Heim und Heimat

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Während der Lockdown-Phasen der Pandemie, die Italien besonders hart traf, saßen die Menschen in ihren Wohnungen fest und machten sich und ihren Nachbarn Mut, wie dieses Paar in Rom im März 2020. (Foto: Alessandra Tarantino/AP)

Das Italienische Literaturfestival München widmet sich in diesem Jahr dem Thema "Haus". Wie wollen, wie können, wie werden wir in Zukunft wohnen?

Von Jutta Czeguhn

Werden sie kommen, ihre Häuser verlassen oder werden sie, wie 2020 und 2021, den Lesungen und Diskussionen beim Italienischen Literaturfestival München via Stream vom heimischen Sofa aus folgen? Elisabetta Cavani kann es nicht einschätzen. Aber irgendwie geht es ja genau darum. Um "Case - Häuser", in denen wir in den vergangenen zwei Jahren festsaßen (was heißt "verschlumpfen" auf italienisch?). Mehr als genug Zeit, um nachzudenken über unsere Vorstellung vom Wohnen der Zukunft, über Spekulantentum, verwahrloste Großwohnsiedlungen, über Behaustheit, Heimat und ihren Verlust, über den privaten und den öffentlichen Raum. All das ist nun Thema der mittlerweile vierten Auflage von Cavanis Herzensprojekt.

2019 hatte sie das "ILFest" gegründet, die Buchwissenschaftlerin aus Bologna, die Anfang der Achtzigerjahre nach München kam und dort irgendwann ihre Buchhandlung "Ital-Libri" eröffnete, weil sie es satt hatte, für ihre Landsleute in Monaco di Baviera italienischen Lesestoff kofferweise über den Brenner zu bringen. Nach zwei Online-Ausgaben findet das Literaturfestival vom 1. bis. 3. Juli nun wieder vornehmlich analog statt, in der Pasinger Fabrik. Mit, so hofft Cavani, viel persönlichem Austausch zwischen dem Münchner Publikum und den Autorinnen und Autoren, die aus Italien anreisen. Übersetzer werden stets zur Stelle sein.

Leben in seltsamen Zeiten: Gianluca Didino fragt sich in einem Essay, ob die Vorstellung des Zuhauses als geschütztem Ort noch Gültigkeit hat. (Foto: privat)

Einer der Gäste ist Luca Molinari, der Architekt, Kritiker und Kurator hat sein Buch "Le case che siamo" (Die Häuser, die wir sind) schon 2016 veröffentlicht. Umso spannender, sagt Elisabetta Cavani, werde es sein, mit ihm nach den Erfahrungen der Pandemie darüber zu sprechen. An Beispielen aus der Architekturgeschichte reflektiert Molinari das Phänomen des Wohnens, wie Kleidung repräsentieren Häuser die Identität ihrer Bewohner, ihre sozialen Beziehungen, den politischen Kontext. Man folgt ihm durchs Weiße Haus, durch Le Corbusiers furiose Bauten und durch Ikea-Wohnwelten mit all ihren Verheißungen von (genormter) Individualität. Das Eigenheim - Gianluca Didino wiederum hinterfragt diesen Massentraum in seinem Essay "Essere senza casa. Sulla condizione di vivere in tempi strani" (Unbehaust. Über den Zustand, in seltsamen Zeiten zu leben). Als jemand, der im obszön teuren London lebt, kennt Didoni die gesellschaftlichen Wohnwirklichkeiten nur zu gut. Im Gespräch mit der argentinischen Autorin Samanta Schweblin dekonstruiert er die Vorstellung vom Zuhause als gegen alle Bedrohung geschützten Ort.

"In den seltsamen Zeiten, die wir gerade durchleben, verspüren wir dieses Unbehagen, das uns alle betrifft", sagt Cavani. Etwas, wenn nicht alles, ist ins Wanken geraten. So öffnet das Haus beim Literaturfest seine Türen und Fenster weit, wird zum Planeten Erde, die wir nicht alleine bewohnen, aber als einzige Spezies beharrlich zugrunde richten. Mit Francesca Buoninconti ist eine Ornithologin beim ILFest zu Gast, in ihren auf Deutsch im Wiener Folio Verlag erschienenen Büchern "Tierisch laut" und "Grenzenlos" erzählt sie von den Kommunikations- und Überlebensstrategien der Tiere in Zeiten des Klimawandels.

Wozu noch Poesie? Eine ziemlich große Frage

Und wo bleibt der Raum für Geschichten, für Poesie bei diesem Lesefest? "Certo che c' è!", hört man Elisabetta Cavani sagen. All das wird es geben, natürlich. Was es bedeutet, in einer Sprache "zuhause sein" oder eben auch nicht, davon handelt "Lingua madre" ("Muttersprache"), der mit dem Premio Calvino 2021 ausgezeichnete Debütroman der Bozener Autorin Maddalena Fingerle. Was passiert, wenn sie sich entfremden? Der Körper als unser intimster Raum, und die Sprache als Instrument, mit dem wir Beziehung zur Welt da draußen aufnehmen? Ist Poesie heute noch möglich? In unserer gedichtblinden Zeit. Und wozu? Eine ziemlich große Frage, die sich junge Dichterinnen und Dichter - Maria Borio, Tommaso Di Dio, Carmen Gallo, Massimo Gezzi - da stellen.

Sandra Petrignani hat viele der großen italienischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts porträtiert, beim ILFest erzählt sie davon. Für ihre Biografie über Natalia Ginzburg, auf deutsch erschienen unter dem Titel "Die Freibeuterin" (btb), hat sie unter anderem Ginzburgs Versteck in den Abruzzen während der deutschen Besatzung besucht. (Foto: Pasquale Comegna)

Den Raum für ihre eigene Sprache mussten sie sich sprichwörtlich erkämpfen, Schriftstellerinnen wie Natalia Ginzburg, Elsa Morante oder Alba de Céspedes, deren Buch "Das verbotene Notizbuch" in einer Neuauflage endlich wieder Würdigung erfährt. Sandra Petrignani hat viele dieser großen italienischen Autorinnen des 20. Jahrhunderts interviewt. Mit Elisabetta Cavani spricht sie über diese Begegnungen und über Reisen zu deren Häusern ("La scrittrice abita qui", Neri Pozza; Hier wohnt die Schriftstellerin). In schönem Dialog dazu ist auch eine Ausstellung im Lichthof der Pasinger Fabrik gesetzt, Fotograf Luca Nizzoli Toetti zeigt italienische Autoren und Autorinnen in ihrem Arbeitsumfeld.

Kinder brauchen ein Zuhause, der Verlust kann ihr gesamtes späteres Leben beeinflussen. Elisabetta Cavani erging es wie vielen ihrer Landsleute, sie hatte noch nie von jener ungeheuren Solidaraktion der Kommunistischen Partei Italiens und ihrer Frauenorganisation Unione Donne Italiane gehört. Zwischen 1946 und 1952 wurden an die 100 000 Kinder aus den zerbombten, hungernden Städten Süditaliens in den reicheren Norden gebracht. Zu Familien, die sie für Wochen, Monate oder sogar für immer aufnahmen. Beim Literaturfest erzählt Viola Ardones Roman "Il treno dei bambini" (deutsche Ausgabe "Ein Zug voller Hoffnung", C. Bertelsmann), anrührend davon, ebenso Alessandro Pivas Dokumentarfilm "Pasta Nera". Für Kinder, diese Anpassungswunder, die Sprachen schneller lernen als Wind, hält das "ILfest Bambini" Lesungen und Workshops mit der Illustratorin Irene Penazzi bereit. Und vielleicht wird es beim kleinen Münchner Fest der italienischen Literatur ja so sein wie kürzlich beim riesigen Salone del Libro in Turin. Die Begeisterung für Bücher ist zurückgekehrt.

ILfest - Italienisches Literaturfestival München, Fr. 1. bis So. 3. 7, Pasinger Fabrik, August-Exter-Str. 1, Infos über termine, Tickets und das Streamingangebot unter www.ilfest.de

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