Flüchtlingslager:"Manche werden ausgezogen und verprügelt"

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Lara-Milena Brose studiert an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen und hat zusammen mit anderen die Aktionsgruppe AK49 in München gegründet. "Ich will aber nicht nur politischen Dokumentarfilm machen“, sagt sie. (Foto: Robert Haas)

Die Münchnerin Lara-Milena Brose fährt mit der Aktionsgruppe AK49 nach Bosnien-Herzegowina, wo Geflüchtete im Wald leben und immer wieder gewaltsam von der Polizei vertrieben werden. Es ist nicht ihr erster Einsatz mitten im Elend.

Interview von Martina Scherf

Lara-Milena Brose, 27, ist viel beschäftigt. In Berlin dreht sie gerade noch einen Imagefilm für eine Nichtregierungsorganisation (NGO) fertig. Und auch ihr eigener Film fürs Vordiplom an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) muss noch abgeschlossen sein, bevor sie am Montag nach Bosnien-Herzegowina aufbricht. Mit ihrer Münchner Gruppe AK49 haben sie und ihre Freunde in den vergangenen Wochen Spenden gesammelt für die Flüchtlinge, die dort in den Wäldern an der Grenze frieren und leiden. Die Gruppe will die Sachen persönlich übergeben und mehrere Wochen bleiben. Es ist nicht das erste Mal, dass Brose das Leid Geflüchteter hautnah miterlebt.

SZ: Sie fahren mit Lastwagen voller Spenden nach Bosnien - und sind dort gar nicht willkommen, weil der Staat keine fremden Helfer im Land will. Wissen Sie, was Sie erwartet?

Lara-Milena Brose: Wir sind in Kontakt mit Helfern, die schon da sind. Ich sprach vor Kurzem auch mit einem slowenischen Journalisten, der dort war. Die Situation ist bedrohlich. Menschen werden gewaltsam von der Grenze zurückgedrängt. Manche werden ausgezogen und verprügelt. Sie schlafen bei Minusgraden in dünnen Zelten. Viele haben Erfrierungen an den Füßen, die Helfer wissen gar nicht mehr, wie sie das noch versorgen sollen. Es ist absurd, dass in so einer Situation ausländische, aber auch Hilfe von Einheimischen, für illegal erklärt wird. Aber das kennen wir schon aus Griechenland. Da wird Stimmung gemacht gegen NGOs. Man kann dann oft nur in der Dunkelheit, ab acht Uhr abends agieren.

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Sie werden gezwungen, nachtaktiv zu sein?

Ja. Die Gruppen sind halt politisch divers und nur wenige geduldet. Nur SOS Bihac hat einen humanitären Status. SOS Balkanroute, mit denen wir kooperieren, hat keine Genehmigung, wird aber geduldet. Die meisten Helfer kümmern sich trotzdem ganz bewusst auch um Menschen, die illegal in den Wäldern leben und immer wieder versuchen, über die Grenze nach Kroatien zu kommen. Das provisorische Lager Lipa nahe der Grenze wurde kurz vor Weihnachten geräumt und brannte wenig später aus. Wir werden sehen, was auf uns wartet.

Wo wohnen Sie?

Wir werden in Wohnungen untergebracht und schlafen zu mehreren in einem Zimmer. Wir haben es warm und können kochen, um das Essen später zu verteilen. Zur Zeit werden etwa 1000 Leute versorgt. Außerdem verteilen wir die Spenden und unterstützen andere Helfer, auch medizinisch, soweit wir das können.

Wie ist die Corona-Situation dort?

Wohl nicht so schlimm wie in Westeuropa. Wir schützen uns natürlich mit Masken und versuchen, uns vorsichtig zu verhalten. Aber das gilt ja immer, wenn man mit Menschen zu tun hat, die unter solchen Bedingungen leben müssen und im Winter wochenlang im Freien schlafen. Die haben ständig Infekte. Das hört man schon an der Geräuschkulisse, wenn man sich den Zelten nähert: Alle husten ständig.

Ist es Absicht, die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen?

Sicher. Die elende Situation soll abschrecken. Weil der Tourismus völlig brachliegt, könnte man die Menschen vorübergehend in den leer stehenden Hotels und Pensionen unterbringen. Aber natürlich lehnt der Staat das ab.

Wollen Sie auch filmen?

Wir haben uns schon Gedanken gemacht, ich kann darüber aber noch nicht offiziell sprechen. Das würde das Projekt womöglich gefährden. Es gibt bisher kaum Bilder von den Pushbacks, wenn die Menschen gewaltsam von der Grenze zurückgetrieben werden.

Zweimal war Lara-Milena Brose als Helferin auf Lesbos. "Dass Politik zu solch unmenschlichen Situationen führt, das begreift man erst richtig, wenn man es selbst erlebt", sagt sie. (Foto: dpa)

Es ist nicht Ihre erste Reise zu den Flüchtlingen, Sie waren schon in verschiedenen Camps. Was haben Sie dort erlebt?

Ich war zweimal auf Lesbos, einmal in Idomeni und auch in anderen Lagern in Griechenland. In Idomeni habe ich zum ersten Mal einen solchen Pushback miterlebt. Einige Menschen waren zum Grenzfluss gelaufen und wateten durchs Wasser. Ein Vater versuchte, seine Tochter über den Fluss zu tragen. Drüben wurden sie vom Militär eingekreist und eine ganze Nacht lang bedroht und festgehalten. Und am nächsten Morgen mussten sie den ganzen Weg wieder zurück ins Lager laufen, sechs Stunden lang. Da waren viele Familien, viele Kleinkinder dabei. Auch Freiwillige und Journalisten wurden festgenommen. Dass Politik zu solch unmenschlichen Situationen führt, das begreift man erst richtig, wenn man es selbst erlebt.

Idomeni wurde wenig später geschlossen.

Aber das Problem verlagert sich ja nur. Heute ist es Moria. Oder Bosnien. Und im Mittelmeer sterben jeden Monat Menschen.

Entwicklungsminister Gerd Müller sagte vor Weihnachten: Er habe Flüchtlingscamps im Nordirak und Südsudan besucht. Nirgendwo herrschten solch schlimme Zustände wie auf Lesbos. Politiker wie Armin Laschet oder der verstorbene Norbert Blüm waren schon in griechischen Lagern und zeigten sich sehr betroffen.

Das glaube ich ihnen. Aber Betroffenheit reicht nicht. Da spielen viele Faktoren zusammen. Jedes europäische Land macht sein eigenes Ding. Aber alle sind sich einig, dass sie auf Abschreckung setzen. Und für die Menschen heißt das: Dein Pass entscheidet, welches Recht auf dich angewendet wird. Einmal begleitete ich eine schwangere Frau, die trotz Schmerzen erst in letzter Minute ins Krankenhaus kam und einen Kaiserschnitt erhielt. Nach vier Tagen war sie wieder draußen. Als sie am nächsten Tag mit ihrem Säugling auf die Toilette ging, stürzte das Dixi-Klo um. Solche Bilder vergisst man nicht.

Wie verarbeiten Sie solche Bilder?

Ich spreche viel mit Freunden und Freundinnen. Und ich bin ein von Grund auf positiver Mensch. Ich kann lachen und genießen und finde mein Leben großartig. Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen so viel Freiheit hätten wie ich.

Seit wann engagieren Sie sich?

Als ich zum Studium nach München kam, war ich bei der "Karawane" aktiv. Flucht war damals eher ein Randthema. Das änderte sich 2015, im langen Sommer der Migration. Plötzlich war das Thema im Fokus der Weltöffentlichkeit. Mir wurde dabei klar: Zeitungsartikel und Nachrichtenbilder lassen einen nur bedingt verstehen, was an Europas Grenzen vor sich geht, und was politisch gerade verhandelt wird. Ich wollte dann dokumentieren, was die betroffenen Menschen erleben.

Sie fuhren das erste Mal allein hin?

Ja. Aber die Aktivistinnen und Aktivisten, Helferinnen und Helfer, die aus ganz Europa und vereinzelt sogar aus den USA und Kanada kommen, sind ja meist schnell gut vernetzt.

Was motiviert Sie?

Ich war seit meiner Jugend ein politischer Mensch. Und wenn man dann mal mit Menschen verbunden ist, die diesen Blick auf die Welt teilen, dann lässt einen das nicht mehr so schnell los. Ich will auf Missstände aufmerksam machen, um etwas in Bewegung zu bringen. Deshalb bin ich auch nicht nur auf die praktische Hilfe konzentriert. Mich macht es einfach wahnsinnig wütend, dass solches Leid in Europa geduldet wird. Es wäre zu verhindern, wenn die Regierungen es wollten. Aber meines Erachtens sollen diese furchtbaren Bilder aus den Lagern ja abschrecken. Sie sind Teil der Strategie, die Festung Europa abzuschotten.

Was ist Ihr Traum als Filmemacherin?

Mein größter Wunsch ist natürlich, dass ich mit dem Filmen eines Tages mein Geld verdienen kann. Ich will aber nicht nur politischen Dokumentarfilm machen. Mich interessieren auch künstlerische Zugänge sehr. Das eine inspiriert das andere.

© SZ vom 22.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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