Academy Award für Filmausstatterin:"Es ist surreal, selber einen Oscar zu besitzen"

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Ernestine Hipper und ihr Oscar: Für die Neuverfilmung von "Im Westen nichts Neues" hat die Ausstatterin 2023 den begehrten Acadamy Award bekommen. (Foto: Catherina Hess)

Nur zehn Wochen hatte Ernestine Hipper, um ein ganzes Schlachtfeld aus dem Ersten Weltkrieg nachzubauen. Für "Im Westen nichts Neues" hat die Filmausstatterin nun einen Oscar gewonnen - fast so, wie es ihr einst ein Wahrsager auf Ibiza vorausgesagt hatte.

Von Gerhard Fischer, München

Ernestine Hipper ließ sich auf einem Hippie-Markt auf Ibiza aus der Hand lesen. Hipper war damals, es ist 19 Jahre her, beruflich unzufrieden. Und sie war unschlüssig. Sollte sie weiter Filme ausstatten und durch die Weltgeschichte reisen? Oder lieber einen Laden aufmachen und Wurzeln schlagen? Der Mann, der ihr aus der Hand las, riet ihr, beim Film zu bleiben und sagte: "Wenn du 60 bist, wirst du die größte Bühne betreten, einen großen Preis erhalten und weltweit bekannt werden."

Vor zwei Monaten, Hipper war 60, bekam sie den Oscar für das Szenenbild im Anti-Kriegsfilm "Im Westen nichts Neues."

Ein echter Oscar, der begehrteste Preis der Filmbranche. (Foto: Catherina Hess)

Ernestine Hipper sitzt im Literaturhaus in München und bestellt ein Wasser. "Ich hatte gar nicht mehr an die Prophezeiung gedacht", sagt sie. Eine Freundin, die damals auf dem Hippie-Markt dabei war, musste sie daran erinnern.

Hipper lacht, und sie hakt den Hippie-Markt damit ab. Sie wechselt rasch von Ibiza nach Hollywood. 2020 bekam sie - zusammen mit Christian M. Goldbeck - den Auftrag für "Im Westen nichts Neues". Der Produktions-Designer Goldbeck entwarf den Look und die Bauten, die Filmausstatterin Ernestine Hipper befüllte die Räume. "Ich war sozusagen für die Hardware zuständig." Die Arbeit begann Anfang 2021, Hipper hatte nur zehn Wochen Zeit, das Schlachtfeld, das in der Nähe von Prag entstehen sollte, möglichst echt nachzubauen. "Im Frühjahr wäre der Boden zu warm geworden, das Gras und die Blumen hätten gesprießt", erklärt Hipper.

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Zehn Wochen! Ernestine Hipper las Feldpost, durchforstete Archive nach Bildmaterial, besuchte Museen. Es war Corona-Zeit, in Prag herrschte strenger Lockdown. "Und dazu der Brexit!" Viele Requisiten mussten aus London heran geschafft werden, aber sie durfte nicht reisen. Hipper schaffte es schließlich mithilfe eines Kontaktmannes, dass ein Lkw mit Requisiten von London nach Prag fuhr, unter anderem Pferden aus Kunststoff an Bord - und mit Spezialstacheldraht. "5000 Meter Stacheldraht", sagt Hipper, "die Stacheln waren aus Gummi, und jede einzelne Stachel musste in England hingeklebt werden." Sie hielten die Deadline, und es wurde gut; gut genug für einen Oscar.

Was war denn die Begründung der Jury? "Christian und ich hätten den Film so ausgestattet, dass es überzeugend echt wirkte", sagt Hipper. "Dass man es als Zuschauer riechen und fühlen konnte."

Sie erschuf schon als Kind eigene Welten

Ernestine Hipper wuchs in einem kleinen Dorf bei Schrobenhausen auf. "Ich war immer künstlerisch, ich habe schon als Kind gezeichnet und gelesen", sagt sie. Man fand sie oft auf dem Dachboden des 100 Jahre alten Schulhauses, in dem die Familie wohnte. Hipper hat dort ihre eigene Welt erschaffen, inmitten von ausrangierten, aber aufgehobenen Gegenständen der Familie und den Kleidern der Urgroßmutter.

Felix Kammerer (rechts) als Paul Bäumer und Albrecht Schuch (links) als Stanislaus Katczinsky in der Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Roman "Im Westen nichts Neues". Ernestine Hipper hat das Antikriegsdrama ausgestattet. (Foto: Reiner Bajo/dpa)

Als sie ein Teenager war, zog die Familie in die Nähe von Nürnberg. Hipper wurde mit den Franken nicht warm, sehnte sich nach dem Süden und bewarb sich mit einer Zeichenmappe an der Modeschule in München. "Da waren 100 Bewerber in einem Raum, und nur 20 wurden genommen", erzählt sie. "Da dachte ich: Hipper, es ist wie immer: Du hast keinen Plan B." Brauchte sie auch nicht: Sie wurde genommen und war, so sagt sie, "mit 17 Jahren die jüngste Absolventin, die je auf diese Modeschule ging". Es ist eine Fachhochschule, Hipper belegte zusätzlich den Studienzweig Grafikdesign.

In dieser Zeit war sie mit einem jungen US-Amerikaner liiert. Einmal flog sie zu ihm nach New York (ihren Eltern hatte sie gesagt, dass sie eine alte Freundin in dem Dorf bei Schrobenhausen besuche). "Als ich damals den Big Apple sah, war es mir klar: Ich muss die Welt sehen, ich bekam eine unstillbare Sehnsucht zu reisen - die habe ich bis heute." Hipper ist nicht mehr 17, sondern seit wenigen Tagen 61, aber sie ist sich in einigen Dingen treu geblieben: Künstlerin sein, neugierig sein, unterwegs sein.

"Beim Film kommst du nicht weiter, wenn du schüchtern bist"

Während sie auf der Modeschule war, hat Ernestine Hipper gejobbt. "Ich habe es als Bedienung versucht, aber da war ich nicht frech genug", sagt sie. "Ich war damals sehr schüchtern." Wann ging das weg? Hipper lächelt. "Später beim Film. Da kommst du nicht weiter, wenn du schüchtern bist."

Mittlerweile wirkt Hipper - dunkle Künstlerinnen-Hornbrille, weite Kleidung - ziemlich selbstbewusst. Einige Tage nach dem Treffen im Literaturhaus schickt sie eine Mail: Es wäre ihr wichtig, wenn im Artikel erwähnt würde, dass sie "Filmgeschichte" (sic) sei. Immerhin habe sie als einzige Filmausstatterin bisher an zwei Werken - "Im Westen nichts Neues" und "Tár" mit Cate Blanchett - mitgewirkt, die man für den besten Film bei den Baftas in England und den Oscars in den USA nominiert habe.

Cate Blanchett als Lydia Tár in einer Szene des Films 'Tár', bei dem Ernestine Hipper die Ausstattung mitverantwortet hat. (Foto: dpa)

In die Filmbranche rutschte sie übrigens über einen ihrer Nebenjobs. Hipper arbeitete auf einer Messe. Eine Stylistin fragte sie dort, ob sie nicht beim Filmhaus München, das Werbefilme drehte, im Catering mitmachen wolle. Später arbeitete sie dort als Kostümbildnerin, irgendwann kam auch die Ausstattung dazu, und mit 25, sagt sie, sei sie in dieser Branche "der Superstar in Deutschland" gewesen. "Jede vierte Werbung war von mir." Dann zählt sie auf: Mercedes, Toyota, Persil, Stuyvesant, Marlboro. Und die Drehorte: Los Angeles, Neuseeland, Südfrankreich. Für Fa sei sie auf den Bahamas gewesen. Sie habe zwischen 18 und 28 die ganze Welt gesehen.

"Aber dann kam die Sinnkrise", sagt sie plötzlich, nachdem sie das Wasser ausgetrunken und einen Cappuccino bestellt hat. "Ich konnte mich mit dem Thema Werbung nicht mehr identifizieren." Und mit den Menschen, die sich damit beschäftigen, wohl auch nicht. Sie spricht von einem "Tarantino-Moment", also einem inneren imaginären Massaker-Moment. Sie lacht und sagt: "Ich saß mit diesen Agenturmenschen in einem Raum und habe im Geiste das Studio in die Luft gesprengt." Sie habe dann von heute auf morgen aufgehört.

Nach der Wende ging Hipper nach Berlin, in die Film-Hauptstadt

Hipper machte fortan die Ausstattung für Fernsehfilme, wurde aber nicht glücklich damit, weil oft das Geld fehlte und damit der Spielraum für ihre Kreativität. "Da kriegte ich keinen Flügel hoch", sagt sie. "Manchmal war nicht mal Geld für Blumen vorhanden", sagte sie. Besser wurde es, als sie Kinofilme ausstattete, und 2004 kam schließlich ihr Durchbruch, wie sie sagt. Sie dekorierte den Set von Helmut Dietls Film "Vom Suchen und Finden der Liebe." Damals wohnte sie für ein paar Jahre in Berlin. Die Hauptstadt war nach der Wende Filmstadt geworden.

Aber sie kehrte wieder nach München zurück, weil sie - fast alles - hier liebe, von der Mentalität bis zum Augustiner. Ernestine Hipper wohnte mehr als ihr halbes Leben in München, aber in den vergangenen drei Jahren ist sie beruflich durch die Welt getingelt. Wenn sie im Lande war, wohnte sie bei ihrer Schwester in Franken. Sie sucht jetzt eine Unterkunft in München, aber das ist, wie man weiß, sehr schwer. Über die hohen Mieten kann sie sich sehr aufregen, und über die Parkplatz-Situation in der Innenstadt auch; sie war mit dem Auto zum Literaturhaus gekommen. Vermutlich hatte sie bei der Suche nach einem Parkplatz mehrere Tarantino-Momente.

Eine Stunde ist um, und plötzlich holt sie einen schwarz umhüllten Gegenstand aus der Tasche. Sie wickelt ihn aus, es ist der Oscar, den sie für das Foto mitgebracht hat. Sie stellt ihn auf den Tisch. Ja, sie ist schon stolz. "In 95 Jahren gingen nur 18 Oscars nach Deutschland", sagt sie, "und nur drei davon für Produktionsdesign." Er sei aus vergoldeter Bronze, sagt sie, 3,4 Kilo schwer. Er hat an der Hinterseite ein paar Schrammen, weil ihn viele Leute - auch welche mit Eheringen - angefasst haben. Klar, ihre Freunde, ihre Familie: alle wollen ihn mal in Händen halten. "Es ist surreal, selber einen Oscar zu besitzen", sagt Hipper; vorher habe sie nur die Oscars von Audrey Hepburn in einer Vitrine gesehen.

Ernestine Hipper und Christian M. Goldbeck im März 2023 in Los Angeles bei der Oscar-Verleihung. (Foto: Jordan Strauss/dpa)

Als ihr Name bei der Oscar-Verleihung genannt wurde, sei das "wie ein Donnerschlag gewesen, sagt sie. "Solch ein Gefühl habe ich noch nie in meinem Leben gespürt, es ist unbeschreiblich." Und dann sprach sie die vorgeschriebenen 30 Sekunden zu den Menschen im Saal, der mit 4000 Leuten gefüllt war. "Als ich redete, habe ich Cate Blanchett und Austin Butler in die Augen geschaut."

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