Die langen Tafeln im Hofbräuhaus sind festlich gedeckt: Rote Servietten liegen auf den weißen Tischdecken, kleine Tannengestecke sorgen für Farbtupfer. Über allem strahlen die Kronleuchter. Die Stimmung im holzvertäfelten Festsaal am Platzl ist gleichzeitig besinnlich und aufgeregt. An Heiligabend woanders zu sein, kann sich Rosi Müller ( Nachname geändert) nicht vorstellen. Sie trägt eine rote, samtene Jacke und eine Mütze des FC Bayern, die glatt als Weihnachtsmütze durchgeht.
Die Musik und die Feier gefallen ihr am besten, sagt die 65-Jährige. "Und die Leute sind immer nett und freundlich." Seit drei Jahrzehnten ist sie an Heiligabend Stammgast im Hofbräuhaus, "ich gehe nirgendwo anders hin", sagt sie.
Die Einladung zur Feier hat Rosi Müller von der Teestube "Komm" erhalten. Sie lebte mehr als sieben Jahre lang auf der Straße, kennt die Träger der Wohnungslosenhilfe aus dieser Zeit. Seit dem 10. Mai 1999, Müller kann sich genau an den Tag erinnern, wohnt sie in einer eigenen Wohnung. "Da bin ich auch ganz stolz darauf, dass ich die so lange habe." Trotzdem kommt sie jedes Jahr her, um an Weihnachten nicht alleine zu sein.
Seit 73 Jahren lädt der katholische Männerfürsorgeverein (kmfv) Münchner Bürgerinnen und Bürger in schwierigen Lebenslagen und ohne eigenen Wohnraum an Heiligabend ins Hofbräuhaus ein. "Das ist vermutlich die größte Weihnachtsfeier Deutschlands an diesem Tag", sagt Michael Auer vom kmfv. In diesem Jahr bewirten rund 100 Ehrenamtliche die knapp 600 Gäste.
Dass die Menschen gerade an Heiligabend zusammenkommen, sei ihm wichtig, sagt Auer. Denn an diesem Abend, wenn viele Familien gemeinsam Weihnachten feiern, essen und Geschenke auspacken, sollten sich alle geborgen fühlen - auch, wenn sie keinen eigenen Rückzugsort haben oder an Weihnachten alleine wären.
Plätzchen stehen zu Anfang des Abends auf den Tischen, die Ehrenamtlichen bringen Kaffee und Getränke und "The Holly Rocks" stimmen die Feier musikalisch ein. Sie singen "Ave Maria", "Jingle Bells" und "Ein bisschen Frieden". Spätestens zu "Merry Christmas Everyone" klatschen viele Besucher im Takt, irgendwann bildet sich eine Polonaise durch den Raum.
Auf diese Art Unterhaltung hat Wolfgang Bertold ( Nachname geändert) sich am meisten gefreut. Er hat noch in letzter Minute am Eingang eine Karte bekommen. Tatsächlich gibt es noch freie Plätze im Saal, trotz Einladung sind einige nicht erschienen. Glück also für Bertold. Wäre er nicht mehr reingekommen, hätte er sich wahrscheinlich irgendwo einen Platz draußen gesucht, sagt er, denn er lebt in München auf der Straße. Bertolds langer Bart wippt mit, wenn er langsam und leise spricht. Er war an Weihnachten schon einige Male da, für die Unterhaltung, "und dass man heute nicht vereinsamt".
Beim Weihnachtsfest bekommen alle Gäste ein Überraschungsgeschenk. In den vergangenen Jahren war da "gutes Zeug" drin, sagt Bertold. Heute ist das ein Handtuch, eine Thermoskanne, ein Handyladekabel, ein Wertgutschein für einen Supermarkt, eine Dokumentenhülle und der Rucksack, in dem die Geschenke verpackt sind. Sie werden vom Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung gesponsert. Finanziert wird der Abend daneben durch Spenden der Mitglieder des kmfv sowie durch Zuschüsse des Erzbischöflichen Ordinariats der Erzdiözese München und Freising und der Landeshauptstadt München. Zudem unterstützen das Staatliche Hofbräuhaus in München und die Münchner Verkehrsgesellschaft die Veranstaltung.
Niemand soll an Heiligabend alleine sein
Geschenke gab es auch beim Fest der christlichen Gemeinschaft Sant' Egidio. Knapp 500 Gäste und Ehrenamtliche feierten am 25. Dezember in der Herz-Jesu-Kirche, etwa 300 Menschen am 26. Dezember in St. Matthäus im Hasenbergl. Sie aßen gemeinsam und sangen Weihnachtslieder. "Die Stimmung war fantastisch", sagt Stephan Leicht von Sant' Egidio. Die Gemeinschaft feiert ihr Fest nicht an Heiligabend, sondern lädt einsame, mittellose und alte Menschen, Obdachlose und Geflüchtete am Nachmittag des ersten und zweiten Feiertages zum Feiern ein. Dieses Jahr findet die Tradition zum 15. Mal statt. "Jeder Gast bekommt ein persönliches Geschenk", berichtet Leicht. Jeder solle an Weihnachten individuell willkommen geheißen und wertgeschätzt werden.
Fast 10 000 Menschen sind in München wohnungslos. Die meisten von ihnen leben in Beherbergungsbetrieben, Notquartieren, Unterkünften für Geflüchtete und Wohnprojekten, viele in Mehrbettzimmern ohne eigenen Rückzugsort. Das Sozialreferat schätzt, dass rund 500 Menschen ohne Unterkunft auf der Straße leben. So wie Wolfgang Bertold wären viele von ihnen an Weihnachten alleine in der Kälte.
Im Hofbräuhaus werden an diesem Heiligabend Rinderbäckchen mit Serviettenknödeln und Marktgemüse serviert. Ein echtes Festessen, findet Rosi Müller. Das zarte Fleisch schmeckt ihr besonders gut, aber auch der Fenchel und der Sellerie, "die sind noch so knackig". Ein Stück Fleisch packt sie sich ein, für den nächsten Tag.
Mit den anderen Ehrenamtlichen bringt an diesem Abend auch Sarah Schmidbauer das Essen zu den Tischen. Es ist das fünfte Mal, dass sie sich am 24. Dezember hier engagiert. Wenn sie von ihrem Ehrenamt erzähle, sagten viele, wie selbstlos sie sei, erzählt Schmidbauer. "Aber wenn, dann ist es egozentrisch", erwidert sie dann, "denn es ist auch für mich das schönste Weihnachten." Die 29-Jährige wollte sich unabhängiger von der Familienfeier machen und suchte nach einer Möglichkeit, an Weihnachten ehrenamtlich tätig zu werden. Sie liebe die Stimmung hier, sagt sie: das Aufgeregte am Anfang, das Ausgelassene am Ende.
Dass die Stimmung am Ende tatsächlich ausgelassen wird, liegt wohl auch an den Worten von Kardinal Reinhard Marx. Viele der hier im Raum Versammelten hätten es in diesem Jahr nicht leicht gehabt, beginnt der Erzbischof von München und Freising seine Ansprache. "Aber heute ist ein Tag, an dem wir sagen: Wir leben!" Keiner von uns ist überflüssig, sagt Marx, das sei die Botschaft Jesu an Weihnachten.
Applaus und Johlen tönen nach seinen Worten durch den Raum. Viele hören aufmerksam zu, manche filmen den Bischof. "Unser Leben ist nicht immer so gelungen", sagt Marx. Viele plagten persönliche Nöte und in der Welt litten viele Menschen unter Kriegen. Gerade deshalb sei es wichtig, zusammenzukommen und Weihnachten zu feiern. "Stille Nacht" stimmt die Band danach an, den Weihnachtsklassiker, einige singen mit. Und dann geht die Party erst richtig los.