Eisschwimmen in der Isar:"Es ist gar nicht so schlimm"

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Ganz schön mutig: Sylvia Geißendörfer schwamm mit Mütze und Handschuhen in der kalten Isar. (Foto: Catherina Hess)

Nach der Schließung der Schwimmbäder fasst Sylvia Geißendörfer den Entschluss, Winterbaden auszuprobieren. Wie es sich anfühlt, bei einer Wassertemperatur von 5,7 Grad in die Isar zu springen - und wie man sich darauf vorbereitet.

Von Nelly Ritz, München

Wenn Sylvia Geißendörfer läuft, dann brennt ihr Fuß. Manchmal kann sie ihn nicht aufsetzen. Seit über einem Jahr hält ein Metallnagel im Schienbein sieben Knochenbrüche zusammen. Der Schmerz begleitet sie fast überall hin. Beim Schwimmen aber macht er eine Pause.

Normalerweise krault Sylvia Geißendörfer in Becken mit einer Wassertemperatur von 24 Grad Celsius. Das kälteste Wasser, in dem sie je war, hatte 16 Grad. Die Isar ist in diesem Winter zwischen drei und sechs Grad kalt. Doch sie ist einer der wenigen Orte in München, wo Sylvia Geißendörfer derzeit schwimmen gehen kann. Ein paar Wochen nach der Schließung der Schwimmbäder wegen der Corona-Pandemie fasst sie den Entschluss, Winterbaden zu gehen.

Geißendörfer, schulterlange Haare, breites Lächeln, Fitnessuhr ums Handgelenk, hat Angst vor Krämpfen oder Kältezittern. Sie hat Angst, die Kälte könnte durch das Titan in ihrem Bein unerträglich werden. Zum Arzt will sie deshalb nicht. "Er könnte ja was sagen, was ich nicht hören will", sagt sie. Es klingt ein wenig zu starrsinnig für eine 49-Jährige.

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An einem Dezembervormittag steht Geißendörfer auf dem Flauchersteg, im Münchner Süden. Nasses Laub glänzt unter kahlen Bäumen. Sie beobachtet einige Menschen, die sich auf Steinbänken unterhalb des Stegs bewegen: kurze Joggingrunden, Schulterkreisen, ausgiebiges Strecken. Ein bisschen wie eine Seniorensportgruppe. Dann schälen sich die Menschen aus ihren Winterklamotten und trippeln zum fünf Grad kalten Wasser. Manche sind nackt, manche behalten Handschuhe und Mütze an. Mindestens bis zum Hals tauchen sie alle in die Isar.

Sylvia Geißendörfer fragt sich: "Wie ist es wohl, da rein zu springen?" Parkwächter laufen an ihr vorbei. Einer sagt zum anderen: "Das kann nicht gesund sein."

Nach dem Bad wickeln sich die Schwimmerinnen und Schwimmer in Handtücher oder Wintermäntel und trinken Tee. Nur eine zittert so sehr, dass ihr das Anziehen schwerfällt. Obwohl Geißendörfer genau davor auch Angst hat, will sie wissen, wie sich das anfühlt.

Die Münchnerin liest über das Eisschwimmen in Online-Foren und verfolgt Winterbadende auf Social Media. Angefangen hat das, als sie vor Jahren Bilder vom Extremsportler Christof Wandratsch in einem Gletschersee entdeckte. Wandratsch ist Vorstand im Deutschen Eisschwimmverein KeepFrozen!, organisiert Wettkämpfe und trainiert Interessierte in Aquacamps. Er glaubt, Winterschwimmen werde beliebter in diesen Tagen. Manche Eisbadende wollen ihr Immunsystem stärken, auch wenn positive Effekte für die Gesundheit nicht nachgewiesen sind. Manche suchen Abwechslung oder wollen sich abhärten.

Ob Eisbaden ein Trendsport ist, kann man nur schätzen. Im Internet findet man nicht nur Fotos auf Instagram, sondern auch Zahlen. Von bis zu 5000 Menschen ist die Rede, die in Deutschland Winterbaden. In Vereinen wie den Berliner Seehunden, den Leipziger Pinguinen oder den Goslarscher Robben. Bei Europas größtem Winterschwimmen in Neuburg an der Donau sind 2020 mehr als 100 Eisschwimmerinnen und Eisschwimmer gestartet.

Sylvia Geißendörfer war auch schon bei diesem Event dabei, aber nur mit Neoprenanzug. "Zum Schluss gehen 'die Eisbären' rein. Wir haben immer gesagt, die sind verrückt", erzählt sie bei einem Spaziergang. Die Eisbären, das sind die, die nur mit Badehose und Mütze in die Donau springen. Dann sagt Geißendörfer: "Erst, wenn ich es ausprobiere, kann ich doch sagen, wie es ist." Schlimm genug sei es, dass sie in den vergangenen Jahren viel Zeit im liegenden Zustand verbracht habe.

Selbst der Schnee konnte Geißendörfer nicht abhalten. (Foto: Catherina Hess)

2015 zersplitterte Geißendörfer sich ihr linkes Fersenbein, riss sich die Bänder am Fuß und brach sich die Hand. Abgerutscht, beim Wandern. Mit den Folgen dieses Unfalls hatte sie bis 2018 zu kämpfen. Dann, im März 2019, verletzte sie ihr Bein beim Skifahren. Wenn Geißendörfer von Trümmerbrüchen, von fehlendem Knochenwachstum und den Behandlungen spricht, tritt sie auf der Stelle oder wedelt mit den Händen. Sie ist eine von denen, die nie stillhalten. Eigentlich. Erst seit dem Frühjahr kann sie wieder ohne Gehhilfen laufen.

"Auf Reha war ich immer nur im Schwimmbad, auftreten konnte ich nicht", erinnert sie sich. Das habe Normalität gebracht, auch in den Monaten danach. "Zum Kraulschwimmen braucht man vor allem die Arme", sagt sie. Sie zückt ihr Handy. Eine App listet die Trainingseinheiten und Distanzen auf, die ihre Fitness-Uhr in den vergangenen Monaten gemessen hat: 6,6 geschwommene Kilometer, 16. Juni 2020. "Das war an meinem Geburtstag", sagt Sylvia Geißendörfer. An solchen Tagen könne sie einfach nicht aufhören, sagt sie.

Seit ihrem neunten Lebensjahr ist sie bei der Wasserwacht aktiv, später gibt sie ehrenamtlich Schwimmkurse. Mittlerweile verdient sie als Schwimmlehrerin Geld. Zwischen den Kursen dreht Geißendörfer ihre Bahnen. Das heißt für sie, Gedanken strukturieren. "Ich setze die Badekappe auf und dann gibt es nichts Schöneres, als unten im Wasser zu sein und nichts zu hören. Endlich diese Ruhe." Das, was Sylvia Geißendörfer gerade so sehr vermisst, nennt sie "Wassergefühl". Denn im Wasser fühlt sie sich schwerelos, schmerzlos.

Zehn Tage, nachdem sie die Eisbadenden vom Holzsteg aus beobachtet hat, will Sylvia Geißendörfer selbst in die Isar. Mit ihren Kindern diskutiert sie am Morgen über die Ausrüstung und die wärmste Unterhose für danach. "Die haben gesagt, du spinnst doch", sagt Geißendörfer, als sie an der Badestelle ankommt. Ihre Haare kleben an der Stirn, zum Aufwärmen ist sie eine Runde Fahrrad gefahren. Auf dem Gepäckträger klemmen drei Taschen voll mit Utensilien. Sie parkt ihr Rad am Flaucher, zwischen Bäumen und Brücke. Nur das Rauschen des Wassers ist zu hören. Die Isar hat an diesem Tag 5,7 Grad.

Geißendörfer kramt in ihren Taschen und legt Handtücher, Crocs, Neoprenschuhe, Handschuhe, Badekappen, Skisocken, Leggins, Thermoskannen mit Tee und heißem Wasser, eine Wind- und Wettercreme und eine Matte bereit. Sie klatscht in die Hände. Streckt sich. Zappelt. Auf der gegenüberliegenden Flussseite gleitet eine Gestalt ins Wasser, als wäre die Isar ein wohltemperiertes Thermenbecken.

Dann legt Sylvia Geißendörfer ihre Jacken zur Seite und zieht die Wanderhose aus. Sie setzt zwei Badekappen auf, zwängt sich in die Schuhe und Handschuhe aus Neopren. Sie watet zügig hinein und verschwindet bis zum Hals in der Isar. Sie zischt, stößt Atem aus, steht wieder am Ufer. Eine knappe Minute war sie im Wasser. Sie will noch einmal rein, ein zweites Mal ist nur noch ihr Kopf zu sehen. "Es ist gar nicht so schlimm", ruft sie. Dann stapfen ihre inzwischen krebsroten Beine aus dem Wasser. Auf dem linken Bein leuchten blaue Flecken und Adern, in weiß die Narben von den Unfällen.

© SZ vom 02.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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