München:Bohnen-Mikado für Fortgeschrittene

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Immer wenn es dunkel wird, fassen Riesenameisen Stöckchen oder fällt Willy Brandt auf die Knie. Im Westend senden Schaufenster-Videos Signale für ein Innehalten im hektischen Alltag

Von Andrea Schlaier

Das Bohnen-Mikado wurde von Rainald Raabe aus 183 Einzelaufnahmen zusammengeschnitten. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Augen sind hungrig, aber oft schon vor dem Sehen satt. Otl Aicher hat das mal gesagt. Gut möglich, dass der Großmeister des Kommunikationsdesigns hier auf dem Gehweg an der Kreuzung Astaller-/Guldeinstraße seine Freude gehabt hätte, jeden Montag im Dunkeln, von 18 bis 20 Uhr. Da laufen neuerdings auf straffer Leinwand, die in einem Schaufenster aufgespannt ist, Ameisen durchs Bild, fünf Minuten lang, eine von ihnen braucht fast die Hälfte der Zeit, bis sie ein Stockerl, das zehnmal so groß ist wie sie selbst, von links unten nach rechts oben geschleift hat. Und Schluss. Nix mehr zu sehen. Aber zu hören. Eine Grille meldet sich aus tiefer Nacht zu Wort. Und aus. Willy Brandt fällt in Schwarz-Weiß auf die Knie vor der akustischen Kulisse aus Fridays-for-Future-Parolen. Sachter Schnitt. Kühe wiegen ihr schweres Haupt überm gemächlichen Gebimmel ihrer Alp-Schelle. Huch, noch ein Schnitt: Hockt einer mit umgeschnallter Schweinerüsselmaske während des Lockdowns in der Münchner Straßenbahn und fährt vergnügt durchs Bild. So geht es dahin, zwei Stunden lang, ein kurzer Filmschnipsel am andern, meditativ, irrwitzig, kunstvoll. "Wild wild Westend".

Den Titel dieser Fingerübung fürs passionierte Hinschauen hat sich eine kleine Gruppe ausgedacht, samt Untertitel: "Warte bis es dunkel wird." Ohne das notwendige Komma. Die PR-Architekten um Robert Philipp und das Büro für Kunstkommunikation mit Nicole, Rainald und Giovanni Raabe stecken hinter dieser öffentlichkeitswirksamen medialen Spielerei. Die große Leinwand hängt bei Philipp in der Astallerstraße im Schaufenster seines Büros, auf der direkt gegenüberliegenden Straßenseite flimmert die kleinere Version von Rainald Raabes Mara-Film-Büro aus hinaus auf die Straße.

Wild wild Westend: Mitinitiator Robert Philipp freut sich über Reaktionen. (Foto: Stephan Rumpf)

"Der Aufhänger, das jetzt zu machen, war dieses ganze Corona, dass wir nix mehr machen können, nirgendwo mehr Kultur erfahren können", Robert Philipp schnauft. "Da haben wir uns gedacht, wir projizieren jetzt mal was auf die Straße, eine Übung fürs Zuschauen und Sehen." Kaum Handlung. Von Rainald Raabe stammt etwa das Bohnen-Mikado, in 183 Einzelaufnahmen hat er eine Bohne nach der andern weggenommen, bis von dem Häuflein Hülsenfrüchte nichts mehr übrig war. Etüde in Kontemplation für Fortgeschrittene. Als Gegenpol, sagt Philipp, sei all das gedacht, gegen das ewige Dahinjagen im Alltag, mal kein Konsum, wenn sich der Blick in ein Schaufenster richtet. Und die Reaktion des Publikums auf dem Trottoir? "Manche lassen sich dadurch tatsächlich fixieren, ist ja auch was Meditatives." Andere erschrecken, kaum angesprochen und huschen schnell weiter. Über die Filme wollen sie hier mit den Nachbarn ins Gespräch kommen. Klappt ganz gut. Mit einer Theaterfrau hat Philipp sich schon auf dem Gehsteig festgeratscht, die hatte auch Lust auf diese Kunstform. "Das wär' was", lacht der Architekt und Energieberater, "wenn hier überall montags in den Schaufenstern kleine Filmchen laufen würden."

Jetzt senden die Kunstkommunikatoren erst mal ihre kleinen Werke der Reihe nach durch die Scheibe. Und produzieren fröhlich weiter, was ihnen in den Sinn kommt. "Ich muss mir oft ganz verrückte Bücher mit verrückten Fotos anschauen", sagt Robert Philipp, der in seiner schwarzen Pluderhose und schwarzem Rollkragenpulli leicht verfroren auf dem Bürgersteig steht, "und komm' dann mit guten Ideen für ein Bauprojekt. Warum soll's nicht einem Nicht-Architekten so gehen, wenn der Ameisen sieht."

"Warte bis es dunkel wird", jeden Montag, 18 bis 20 Uhr, Astaller-/Ecke Guldeinstraße.

© SZ vom 13.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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