Fotoausstellung:Ein Blick unter die Oberfläche

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Die Aufnahmen von Rainer Viertlböck zeigen den oft verzweifelten Versuch, Ordnung ins Chaos des Lebens zu bringen und auch mit dem Wenigen, was man hat, in Anstand zu leben. (Foto: Rainer Viertlboeck)

Der Fotograf Rainer Viertlböck hat mit großem Respekt vor der Würde der Menschen die Wohnungen von Verkäufern der Straßenzeitung "Biss" dokumentiert. Seine Bilder zeigen, wie sehr sich Viele nach Normalität sehnen.

Von Evelyn Vogel

Er hat himmelstrebende Architektur von Helmut Jahn ins rechte Licht gerückt und einen glänzenden Blick auf München von oben geworfen. Er hat moderne Metropolen in China und Japan fotografiert und historischen Stätten in Rom und Pompeji ein Denkmal gesetzt. Er hat aber auch Chabolas, die Siedlungen afrikanischer Migranten in Südspanien, die Region um das japanische Kernkraftwerk in Fukushima, die Bunker des Atlantikwalls und die noch vorhandenen Spuren der Konzentrationslager des NS-Regimes in ganz Europa dokumentiert. Und als der Fotograf Rainer Viertlböck vor einiger Zeit den Münchner Verein Biss kennenlernte, der sich um Bürger in sozialen Schwierigkeiten kümmert und die gleichnamige Straßenzeitung herausgibt, begann er, die Wohnungen der Biss-Straßenverkäufer zu fotografieren.

Nun sind Aufnahmen aus dieser Serie unter dem Titel "Einblicke" in der Architekturgalerie in München zu sehen. Es sei "kein Blick von unten", sondern "ein Blick unter die Oberfläche", betont Viertlböck. Biss-Verkäufer, erklärt er, seien in der Regel keine Obdachlosen, sondern lebten "oberhalb der Obdachlosigkeit", aber meist am Rande des Existenzminimums. Es sind Einzelpersonen wie auch Familien mit den unterschiedlichsten Biografien, die Viertlböck bewusst außen vor ließ, um ihre Würde zu wahren. Ihm ging es darum, die Wohnverhältnisse zu dokumentieren.

Fotografie
:Die Wohnungen der Biss-Verkäufer

Der Fotograf Rainer Viertlböck hat Verkäufer der Straßenzeitung Biss in ihren Wohnungen besucht - das sind seine Bilder.

Diese können sehr unterschiedlich sein. Das reicht von beengten Minizimmern bis hin zu Wohnungen in Familiengröße, mit Möbeln wie vom Sperrmüll, aber auch guten Einrichtungen, in denen alles Ton in Ton abgestimmt ist. Meist werden allerlei Brüche deutlich, nicht selten auch die ganz normale Sehnsucht nach Bürgerlichkeit: Selbst in den unaufgeräumtesten Wohnungen finden sich liebevoll arrangierte Ecken mit Lebenserinnerungen, in blitzblanken Küchen hängen Rosenbilder neben kahlen Energiesparlampen. Und manchmal überrascht es, mit wie wenig Menschen auch leben können: eine Matratze zum Schlafen am Boden, ein paar Kissen, ein paar Decken, ein Hocker. Wobei man sich als Betrachter dabei ertappt, dass man die eigene mitteleuropäisch geprägte Erwartungshaltung an möblierten Wohnraum zu Grunde legt und die kulturellen Unterschiede verkennt, die die Vorstellungen von Schönheit und praktischem Nutzen prägen.

Rainer Viertlböck hat die Räume ohne ihre Bewohner fotografiert. In der Ausstellung gibt am Rande nur eine ergänzende Tafel mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen Aufschluss darüber, wer die Menschen sind und seit wann sie für Biss arbeiten - übrigens die älteste und mit 38 000 monatlich verkauften Exemplaren eine der erfolgreichsten Straßenzeitungen Deutschlands. Vielleicht hat die Lakonie, die diese menschenleeren Räume ausstrahlen, geholfen, jeden Anflug von Sozialromantik zu unterdrücken. Immer wirken die Aufnahmen sachlich, nie stellen sie plakativ Not und Elend aus. Dennoch schwingt auch Kritik mit, dass bezahlbarer Wohnraum immer rarer wird. Und spätestens bei der Aufnahme eines Zimmers in einem Kellerraum, der mit seinen Rohren und Anschlüssen wohl eher als Waschküche gedacht war und nun für viel Geld als Wohnraum vermietet wird, rückt das menschliche Schicksal so nah, dass die Ästhetik in den Hintergrund tritt.

Viertlböck fotografierte die "Einblicke" mit der gleichen Großformatkamera und widmete diesen Räumen die gleiche Sorgfalt wie beispielsweise der Architektur, die er in High-End-Qualität in Szene setzt. Entsprechend sind die Fotos bis in den letzten Winkel scharf gezeichnet und wirken sehr plastisch. Viele der ausgestellten Arbeiten sind im Großformat von 1,50 auf 2,10 Meter gedruckt. Einige waren vergangenen Dezember im Gräfelfing zu sehen. Damals kombinierte der Gautinger Fotograf sie mit Bildern aus der Serie "Der neue Blick auf München".

In der Architekturgalerie konzentriert man sich ganz auf die Biss-Aufnahmen. Im hinteren Kabinett sind drei Arbeiten mit Blick in ein Wohnzimmer, in eine Küche und in ein Badezimmer so arrangiert, dass man meint, eine Wohnung zu betreten und vom Flur aus in die drei Zimmer zu schauen. Drei Zimmer allerdings, deren Bewohner sehr unterschiedliche Ansprüche daran haben, wie sie leben wollen und können. Drei Zimmer auch, die möglicherweise vorhandene Vorurteile in den Köpfen der Betrachter gehörig durcheinanderwirbeln, wenn man erfährt, welche Menschen verschiedener Nationalität dort wohnen. Noch eine Erkenntnis, noch ein "Einblick", der durch die Fotoserie von Rainer Viertlböck deutlich wird: Biss kümmert sich nicht nur um ehemalige Obdachlose. Denn im reichen Deutschland sind viele Menschen in sozialen Schwierigkeiten und benötigen Hilfe - egal wie alt sie sind und woher sie kommen.

Biss - Einblicke, Fotografien von Rainer Viertlböck , bis 15. Februar, Mo.-Fr. 9.30-19 Uhr, Sa. 9.30-18 Uhr, Architekturgalerie, Türkenstraße 30

© SZ vom 25.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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