Matthias Schriefl gehört zu den besten Jazz-Trompetern der Welt und war in diesem Fach ein Wunderkind: Mit elf wurde er Bundessieger bei Jugend musiziert; mit 15 und 17 war er das jeweils jüngste Mitglied im Landesjugendjazzorchester Bayern und im Bundesjazzorchester. Schon während seiner Studienzeit in München, Köln und Amsterdam spielte er in den wichtigsten deutschen Bigbands, später im European Jazz Ensemble, mit Sharon King & The Dap Kings und an der Seite von Jim Black, David Liebman, Andy Haderer oder Django Bates. Ein im wahrsten Sinne bunter Hund der Szene, tritt er doch stets in verwegen knalligen Klamotten auf.
Aber Schriefl ist und bleibt auch ein Allgäuer Musikant. Einer, der außer Trompete und Flügelhorn auch zu allerlei anderen Blasinstrumenten vom Euphonium, Horn oder Sousafon greift, oft zu zwei gleichzeitig. In seinen diversen Projekten ist die Volks- und Blasmusiktradition seiner Heimat stets präsent, ob bei Shreefpunk, beim preisgekrönten Album "Six, Alps & Jazz", bei der Unterbiberger Hofmusik oder mit dem Vorarlberger Bläserkollegen und langjährigen Weggefährten Johannes Bär, mit dem er auch das wohl weltweit virtuoseste Alphorn-Gespann bildet. Und der jetzt auch wieder bei Schriefls vielleicht bisher wildesten Unternehmung mit von der Partie ist.
Der Glockenschlag ist für ihn eine Erinnerung an die Kindheit im Dorf
"Seit ich denken kann, fasziniert mich der majestätische Klang von Kirchenglocken," erklärt Schriefl dazu. "In meiner Kindheit war ich nicht nur Ministrant, sondern trompetete auch fast jeden Sonntag in oft eiskalten Allgäuer Kirchen mit unserer Familienmusik. Außerdem spielten wir als Dorfkinder meist den ganzen Tag unbeaufsichtigt draußen, und es war der Glockenschlag der Kirchturm-Uhr, der uns abends an die Brotzeit daheim erinnerte." Während des ersten Corona-Lockdowns, den er in Köln verbrachte, wurden diese Jugenderinnerungen wieder wach: "Kirchenglocken waren fast die einzige öffentlich wahrnehmbare Musik, nämlich dann, wenn die Kirchen alle Geläute gleichzeitig um 21 Uhr erschallen ließen, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu demonstrieren. Ich konnte von meiner Wohnung aus sogar erstmals den dreieinhalb Kilometer entfernten Kölner Dom hören, weil in dieser Zeit fast keine Autos fuhren."
Also kam Schriefl auf die Idee, seine Musik mit dem Klang von Kirchenglocken zu kombinieren. Er gründete die Band Geläut mit Johannes Bär, der Sängerin Sarah Buechi (die er bei musikalischen Studienreisen in Südindien kennengelernt hatte) und den sich abwechselnden Cellistinnen Susanne Paul und Mathilde Vendramin. "Wichtig war mir, dass alle das Rhythmus-Gefühl haben, die Komplexität der übereinander-lappenden Grooves von Glocken wiedergeben zu können", erzählt er. Er besichtigte verschiedene Kirchen samt ihren Glockentürmen, wählte einige aus und schrieb für jede ein Stück: Für die drei Kirchen im idyllischen Straden in der Steiermark, die ein aufeinander abgestimmtes Geläut mit insgesamt neun Glocken haben; für das zweitgrößte Geläut Deutschlands im Konstanzer Münster mit seinen 19 Glocken; für Kirchen in Köln-Brück, in Andelsbuch, in Allgäuer Dörfern, im mexikanischen Mérida; und für die größte Glocke Österreichs, die "Pummerin" im Stephansdom in Wien, "die auch meine Lieblingsglocke ist", wie er sagt.
Alle Glocken wurden mit Seilen manipuliert
Die Kompositionen dienten als Basis für Konzerte zwischen Frühjahr und Spätsommer 2021 an den jeweiligen Orten mit Band, den Geläuten und lokal ansässigen Musikern als Glöcknern. Klingt einfach, doch der Teufel steckt im Detail: "Bei jedem Geläut-Konzert kletterten wir sieben Stunden vor Beginn durch den Glockenstuhl und manipulierten alle Glocken mit Seilen, so dass sie, wie in den Kompositionen vorhergesehen, einzeln von den für die Konzerte engagierten lokalen Glöcknern angeschlagen werden konnten. Nach zwei Stunden Vorbereitung folgte eine vier- bis fünfstündige Probe, bis wir die Melodien und Rhythmen aus den Türmen synchron zu unserer Musik auf den Kirchplätzen erschallen lassen konnten."
Die Konzerte waren nicht groß angekündigt, und so bildeten das Publikum oft Passanten, die fasziniert stehen blieben. Sehr zur Freunde von Schriefl und seinen Begleitern, war doch neben dem generellen Wiederentdecken der Symbolik, Geschichte, Wirkung und Klangschönheit der vielen europäischen Kirchenglocken das erklärte Ziel, Anwohner ihre Glocken neu erleben zu lassen. Die Höhepunkte dieses einzigartigen Projekts sind nun auf der CD "Geläut" bei Resonando erschienen: Eine Hymne an den Glockenklang, jubelnd, wild, mit irrsinnigen Bläsereskapaden und grandiosem Lautgesang, meist viel komplexer und dramatischer, als man erwarten würde - ob bei einer modernen Bearbeitung des Kirchenlieds "Gott ist mein Hirte", bei überbordenden, völlig verrückten Landlern wie dem "Liad fiard Angelika" (der Mutter von Johannes Bär gewidmet) oder der "Straden Party", ob bei dem improvisatorischen "Konstanz Dachreiter" oder dem geheimnisvollen "Petersthal". Soeben haben Schriefl und seine Band "Geläut" auf einer Mini-Tour durch Heimatorte offiziell vorgestellt. Weitere Gelegenheiten, dieses außergewöhnliche Klangabenteuer live zu erleben, werden hoffentlich folgen.