Unterschleißheim:Ein Mahnmal von besonderer Aktualität

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Infotafeln und Silhouetten von Zwangsarbeiterinnen auf Stelen machen anschaulich, was in der NS-Zeit in Lohhof geschah. (Foto: Guenther Hartmann)

Bei der Eröffnung des Denkmals für die NS-Zwangsarbeiterinnen der Flachsröste in Lohhof betonen Redner den Wert des Erinnerungsorts: Die Demokratie sei angesichts rechtsextremistischer Entwicklungen wieder gefährdet.

Von Clara Müller, Unterschleißheim

Clementine Grube arbeitete als Krankenschwester im Jüdischen Krankenhaus München. 1941 wurde sie als Zwangsarbeiterin für die Flachsröste Lohhof rekrutiert. Jeden Tag kam sie mit rund 200 weiteren jüdischen Münchnerinnen am Bahnhof Lohhof an und ging den Weg zur Flachsröste, um in dem als kriegswichtig eingestuften Betrieb aus Flachs Leinfasern herzustellen. Die 1903 geborene Jüdin war mit einem nicht-jüdischen Mann verheiratet, was sie 1942 zunächst vor der Deportation bewahrte. Drei Jahre später aber verschleppte die SS sie gemeinsam mit ihren drei Kindern doch nach Theresienstadt.

Der heute 90-jährige Ernst Grube ist eines von Clementines Kindern. An diesem Donnerstag ist er am Bahnhof Lohhof und geht den Weg, den seine Mutter vor 82 Jahren gehen musste. "Es gibt Bilder in mir, die beherrschen mich hier im Moment", sagt er, der heute als Präsident der Lagergemeinschaft Dachau einer der letzten Zeitzeugen der NS-Verbrechen ist.

Zusammenstehen für die Erinnerung: Veronika Leikauf, Leiterin des Erinnerungsorts, Projektleiterin Daniela Benker, Kirsten Zeitz, Maximilian Strnad, Ernst Grube, Landrat Christoph Göbel sowie weiter Bürgermeister Christoph Böck, Mirjam Zadoff und Ellen Presser bei der Einweihung der Stelen (von links). (Foto: Dieter Michalek)

Die Biografie von Clementine Grube ist an diesem Tag zum Nachlesen auf ein Roll-up gedruckt, das in der Aula der Beruflichen Oberschule (FOS/BOS) nahe dem Bahnhof aufgestellt ist. Schülerinnen und Schüler haben diese in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv München recherchiert und aufgearbeitet. Es ist an diesem Tag der feierlichen Eröffnung des Erinnerungsorts "NS-Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof" eine der vielen Geschichten von Zwangsarbeiterinnen, die erzählt werden. Die Aula ist vollbesetzt, unter den Anwesenden sind einige Angehörige der einst brutal ausgebeuteten Frauen.

"Dieser Tag wird in Erinnerung unserer Stadt Unterschleißheim bleiben", sagt Bürgermeister Christoph Böck (SPD), nachdem ein Trio des Jewish Chamber Orchestra Munich mit dem ersten Satz von Gideon Kleins Streichtrio den Festakt eröffnet hat. Der Weg zur Einweihung des Denkmals sei nicht leicht gewesen, sagt Böck. Viel wichtiger sei aber, dass der Weg hier nicht zu Ende sei. "Es ist ein Meilenstein, ein Richtungszeiger." Die Gesellschaft sehe sich mit wachsender rechtsextremistischer Ideologie konfrontiert.

Die gesellschaftliche Entwicklung bereitet Sorge. "Es ist eine aktuelle Bedrohung."

Ernst Grube ist Ehrenbürger der Stadt München, er leistet seit Jahrzehnten Erinnerungsarbeit. Auch ihm bereitet die gesellschaftliche Entwicklung große Sorgen, wie er sagt. Mit Hakenkreuzen beschmierte Wände und der Fremdenhass, der Flüchtlingen entgegenschlage - all das verharmlose die Terrordiktatur der Nationalsozialisten. Die örtliche Konfrontation mit dem Geschehenen betreffe nicht nur Vergangenes. "Es ist eine aktuelle Bedrohung."

Eine Tafel erläutert, was den Besucher an dem aus mehreren Stationen bestehenden Erinnerungsort erwartet. (Foto: Guenther Hartmann)

Landrat Christoph Göbel (CSU) spricht von seiner Schulzeit. Das Gedenken an die Schrecken der NS-Zeit sei damals dank Überlebender möglich gewesen, sagt er, heute dagegen gebe es nur noch sehr wenige Zeitzeugen, die den "Stab der Erinnerung" weitergeben könnten. Deshalb sei es umso wichtiger, Orte der Erinnerung zu schaffen. Ellen Presser, die Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, fordert: "Das lange Schweigen muss in unserer Gegenwart aufhören." Die Demokratie sei fragil und ein Weg, sie zu bewahren, sei die Erinnerung.

Ein bedeutender Bestandteil des Denkmals sei für sie der virtuelle Lernort, bei dem jeder über Augmented Reality einen Eindruck von der Arbeit in der Flachröste erhalte. Laut Mirjam Zadoff, der Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, hat das Flachsröste-Projektteam rund um den Historiker Maximilian Strnad, die Künstlerin Kirsten Zeitz und die Kulturamtsleiterin Daniela Benker mit der partizipativen und digitalen Konzeption des Denkmals den passenden Ansatz gefunden, um bei Schülerinnen und Schülern die richtigen Denkanstöße auszulösen.

Die Redner betonen mehrfach, wie wichtig es sei, junge Menschen mit dem Gedenkort zu erreichen. Doch dessen feierlichen Eröffnung in der Schulaula der FOS/BOS findet ohne Schüler statt - genau an diesem Tag ist Wandertag, wie Bürgermeister Böck erklärt, der zugleich einräumt: "Ich hätte mir gewünscht, dass mehr Schüler dabei gewesen wären." Laut Projektleiterin Daniela Benker dagegen wurde die Veranstaltung bewusst so gelegt, dass das Schulgebäude wegen eines Projekttags leer ist. "Mit rund 1200 Schülerinnen und Schülern hätten wir keine Sekunde Ruhe hier drin gehabt", sagt Benker.

Ernst Grube und Maximilian Strnad (rechts) begeben sich auf den Weg zum Ort, an dem die Zwangsarbeiterinnen in der Flachsröste unter harten Bedingungen arbeiten mussten. (Foto: Dieter Michalek)

Als der Historiker Maximilian Strnad und die Künstlerin Kirsten Zeitz durch den Gedenkort führen, bewegt die Teilnahme der Angehörigen der Zwangsarbeiterinnen. Olga Berger und Irene Forge sind aus Frankreich angereist, um der Geschichte ihrer Mutter Maria Fastowez nachzugehen. Fastowez war eine der Zwangsarbeiterinnen, die aus der Ukraine verschleppt wurden. Mit gefälschten Papieren konnte sie aus dem Lager fliehen. Die Halbschwestern tauchen im Gespräch mit Strnad tief in ihre Familiengeschichte ein. Vieles ist bis heute unklar. "Wir haben unserer Mutter vielleicht nicht genügend Fragen gestellt", sagen sie. Vor vier Monaten ist Maria Fastowez in Frankreich gestorben.

Die Künstlerin Zeitz spricht über den mühsamen Akt, in dem sie die Namen der Zwangsarbeitenden eigenhändig in die Stahlplatten entlang des Wegs der Erinnerung gehämmert hat. "Das war meine Möglichkeit, mich den Menschen anzunähern", sagt Zeitz. "Das ein oder andere Mal habe ich bei der Arbeit auch mit ihnen gesprochen." Die Grafikerin Ruth Dieckmann hat mit der Zeit eine Beziehung zu den Zwangsarbeiterinnen entwickelt: "Sie wachsen einem ans Herz, ich habe das Gefühl, ich kenne sie persönlich."

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