Erinnerungskultur:Das Leiden wird im Netz real

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Künstlerin Kirsten Zeitz will auch mit den am Erinnerungsort verwendeten Materialien eine Botschaft transportieren. (Foto: Florian Peljak)

Unterschleißheim ergänzt das Mahnmal für die NS-Zwangsarbeiter der Flachsröste in Lohhof mit virtuellen Elementen.

Von Bernhard Lohr, Unterschleißheim

Das war so nicht unbedingt zu erwarten gewesen: Die Künstlerin Kirsten Zeitz und der Historiker Maximilian Strnad verbreiteten nach der Präsentation ihres neuen Konzepts für einen "Erinnerungsort Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof" Zuversicht. Sie sei "guter Dinge", sagte Zeitz und bekannte, große Lust zu haben, aus dem aus purer Not geborenen Kompromiss für ein Gedenken an NS-Verbrechen später noch etwas richtig Gutes zu machen. "Wir verlieren nichts", sagte sogar Strnad. Dabei hatten beide im März 2020 einen herben Rückschlag erlitten, als ihre bis ins letzte ausgearbeiteten Pläne für ein Mahnmal im Papierkorb landeten, weil sich kurz vor der Umsetzung herausstellte, dass das Grundstück für den geplanten zentralen Lernort Ecke Carl-von-Linde-/Johann-Kotschwara-Straße nicht der Kommune gehört. Nun soll mit Hilfe von Augmented Reality - also ergänzenden virtuellen Inhalten im Netz - dieses Manko weitgehend behoben werden.

Vor 77 Jahren ging die NS-Diktatur unter. Und bis heute ist das Ausmaß des begangenen Unrechts noch nicht überall erfasst, geschweige denn bekannt. Der im Frühjahr 2022 verstorbene Unterschleißheimer Heimatforscher Wolfgang Christoph brachte erst vor wenigen Jahren die Leiden der Zwangsarbeiter in der Flachsröste in Lohhof in Erinnerung, wo in der Kriegswirtschaft Flachs gewonnen wurde, um Stoffe etwa für Uniformen zu gewinnen. Der Historiker Maximilian Strnad verfasste 2010 eine wissenschaftliche Arbeit darüber und legte dann einen allseits gelobten Plan für einen Erinnerungsort vor, dessen künstlerische Ausgestaltung Kirsten Zeitz übernahm. Jetzt steht fest: Ihre Arbeit war trotz des Rückschlags vor zwei Jahren nicht umsonst. Die Grundzüge des Plans bleiben erhalten.

Von der Künstlerin Kirsten Zeitz stammt das Konzept für die Erinnerungsstätte, zu der Stelen gehören und blaue Flachsblüten, die den Weg der Erinnerung säumen. (Foto: Foto: Florian Froese-Peeck)

Es geht um drei Elemente: Ein Weg der Erinnerung wird weiter vom Bahnhof Lohhof unter der Bahn hindurch zur Ecke Carl-von-Linde-/Johann-Kotschwara-Straße führen. Diesen Weg, den viele der Ausgebeuteten täglich gehen mussten, wenn sie mit dem Zug ankamen, werden betonierte Flachsblüten im Boden markieren und am Rand des Weges werden Stahlbänder im Boden eingelassen, auf denen die Namen der bekannten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter genannt sind. Ein Gedenkort wird als zweites Element an der Berufs- und Fachoberschule mit Infopulten und Porträtskulpturen entstehen, um dort Biographien von einigen Ausgebeuteten zu erzählen. Die größte Änderung ist am Lernort notwendig, am Ende des Weges, wo heute noch Teile der Fabrik existieren, in denen die Menschen sechs Tage in der Woche zwölf Stunden am Tag schuften und viele Erniedrigungen erleiden mussten.

QR-Codes sollen Smartphone-Besitzern den Weg zu Bildern, Texten und Filmen öffnen

Dieser Ort war Strnad und Zeitz besonders wichtig, um Besuchern eine emotionale Brücke in die Vergangenheit zu bieten. Doch der Eigentümer des Geländes hat anderes vor. Die Stadt spricht selbst von einem Entwicklungsgebiet für ein neues Quartier, was erwarten lässt, dass die historische Bausubstanz verschwinden wird. Die Stadt stehe mit dem Eigentümer im Gespräch, heißt es. So solle versucht werden, eine "kuratorische Kennzeichnung des historischen Ortes" hinzubekommen und den Lernort in das künftige Viertel zu integrieren. Bis dahin soll als Provisorium nun auf einer von Staudenleinfeldern umschlossenen Kiesfläche eine - wenn notwendig - später leicht zu entfernende Stele stehen mit einem QR-Code, der den Besucher am Smartphone in eine speziell programmierte, virtuell mit vielen Bildern, Texten und auch Filmen angereicherte Welt entführt, in der die Schrecken der Zwangsarbeit nachvollziehbar gemacht werden.

Mit der virtuellen Ergänzung, sagte Strnad, werde dort ein authentisches Erlebnis möglich sein. Wer den QR-Code scannt, kann auf dem Smartphone das ehemalige Fabrikgebäude der Flachsröste sehen, die nicht mehr existierenden Wohnbaracken der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen und den fabrikeigenen Bunker. "Der emphatische Anknüpfungspunkt am Ende des Weges der Erinnerung bleibt ohne Installationen erhalten", schreiben Strnad und Zeitz in ihrem überarbeiteten Konzept.

Eine historische Aufnahme des Fabrikgebäudes der Flachsröste Lohhof. (Foto: privat)

Für die Zukunft ist eine weitere Entwicklung möglich. Zunächst einmal werden ursprünglich am Lernort geplante Infopulte und Porträtskulpturen an dem vergrößerten Gedenkort an der FOS zusätzlich aufgestellt. Aber es sollen auch Elemente in der Stadt verteilt auf Grünflächen platziert werden, um so das Erinnern in die Stadt hineinwirken zu lassen. Laut Strnad und Zeitz wird geprüft, den Platz, auf dem sich das Denkmal an der Schule befindet, nach Elisabeth Heims zu benennen. Diese wurde im Juli 1941 von der Arisierungsstelle zur Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof GmbH verpflichtetet. Von dort wurde sie am 20. November 1941 mit weiteren 63 Frauen aus der Flachröste nach Kaunas deportiert und fünf Tage später ermordet. In dem neuen Viertel könnten zudem Straßen nach Zwangsarbeiterinnen benannt werden.

Maximilian Strnad hat das Buch "Flachs für das Reich" über das NS-Zwangsarbeiterlager Flachsröste Lohhof geschrieben und das Konzept für den Erinnerungsort entwickelt. (Foto: Robert Haas)

Das Provisorium führt zwangsläufig dazu, dass der Erinnerungsort als weiter sich entwickelndes Projekt verstanden wird. Das passt auch dazu, dass die Arbeit sowieso weitergeht. Denn bis heute sind nicht alle Namen der Ausgebeuteten und Ermordeten bekannt. Auf den Metallbändern am Rand des Weges der Erinnerung soll es deshalb Leerstellen ohne Namen geben, um an diese anonymen Opfer zu erinnern. Vor allem sollen die Unterschleißheimer und alle Interessierten weiter die bedrückenden historischen Fakten aufarbeiten. Weitere Workshops am Gymnasium sind geplant, wo schon viele Biografien von Opfern erarbeitet und in einem in der App Actionbound abrufbaren Podcast eingebracht worden sind. Die Eröffnung des analog-virtuellen Erinnerungsorts ist jetzt für Juli 2023 geplant.

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