Das wird diese Woche wichtig:Altmeister der Improvisation

Lesezeit: 3 min

Die Finger von Leonid Chizhik jagen über die Tasten. (Foto: Veranstalter)

Jazzpianist Leonid Chizhik eröffnet am Freitag das "Classic & Beyond"-Festival der Ottobrunner Konzerte. Der in der Sowjetunion aufgewachsene Künstler, der in Neubiberg lebt, ist ein begnadeter Improvisateur und ein Mann der klaren Worte. Putins Krieg verurteilt der 75-Jährige scharf.

Von Udo Watter, Neubiberg/Ottobrunn

Ein guter Jazz-Pianist ist mehr als ein Interpret. Schöpfend aus seiner profunden musikalischen Ausbildung entwickelt er aus Melodien und Motiven versiert rhythmisierte Klangerzählungen, verbindet polystilistische Elemente, reagiert intuitiv und zugleich überlegen, überführt die Idee in seinem Kopf in kürzester Zeit auf die Tasten und verwirklicht sie. "Das Wesentliche ist die Spontanität", sagt Leonid Chizhik. Der 75-Jährige ist definitiv mehr als ein Interpret, er ist ein Meister der Improvisationskunst, ein Improvisateur. Geboren 1947 im damals sowjetischen Chișinău (heute Hauptstadt der Republik Moldau) und aufgewachsen in Charkiw in der Ukraine spricht er zuhause in Neubiberg mit seiner Frau (und Hund "Shlomi") Russisch, aber als Künstler ist Musik seine wichtigste Sprache. "Ich möchte erzählen, mit der Sprache von Musik."

Und so vergleicht er seine assoziative pianistische Kunst, von der er nie vorher weiß, wohin sie im Konzert genau führt (was dieses gleichsam zum einmaligen Erlebnis macht) mit der Kunst der Rhetorik. Es ist ein ständiges virtuoses Gestalten, aus dem Augenblick geboren, und da man keine Möglichkeit hat, zu korrigieren gleichsam auch nicht fehlerfrei. Aber auch eine große, frei gehaltene Rede ist ja normalerweise nicht komplett frei von (grammatikalischen) Fehlern und zeitigt dennoch tiefe Wirkung.

Am Freitag, 7. Oktober, wird Leonid Chizhik, der seit 1991 in Deutschland lebt und viele Jahre an den Musikhochschulen München und Weimar unterrichtete, das 5. "Classical & Beyond"-Festival der Ottobrunner Konzerte eröffnen. Sein Programm heißt "Tschaikowski meets Jazz." Der große russische Komponist biete mit vielen seiner Melodien wunderbare Einladungen für einen Improvisateur, wie Chizhik erklärt. Was er freilich konkret am Freitagabend im Wolf-Ferrari-Haus spielen wird, wie er die Intonationswelten russischer Romantik mit melodischen Einfällen von Jazzgrößen wie Cole Porter oder George Gershwin kombinieren wird - er weiß es noch nicht exakt. Was Chizhik, der in der Sowjetunion (vornehmlich in Moskau) als klassischer Pianist ausgebildet wurde, dort aber vor allem den Jazz trotz großer Widerstände salonfähig machte, freilich weiß: Tschaikowski ist zwar Russe, aber seine Kunst ist das "Ergebnis einer großen Persönlichkeit", wie er sagt, und nicht Verdienst seines Geburtslands.

Was nämlich aktuelle russische Politiker gerade versuchen, manche dort geborene Künstler quasi allein für sich respektive für ein wie auch immer geartetes, metaphysisch überhöhtes Vaterland zu vereinnahmen, widerstrebt ihm. "Tschaikowski ist ein Teil der Weltkultur." Was natürlich umgekehrt auch nicht in Frage kommt, ist, den russischen Komponisten wegen Putins Krieg als nicht mehr aufführungswürdig zu erachten.

Künstler mit Haltung: Der in der UdSSR geborene Chizhik verurteilt den russischen Angriffskrieg scharf. (Foto: Veranstalter)

Chizhik, der in der UdSSR einen ähnlichen Status wie der legendäre klassische Pianist Swatjoslaw Richter genoss und von den Achtzigern an als Jazz-Aushängeschild des Landes international tourte und dabei den Respekt von Größen wie Herbie Hancock oder Chick Corea erwarb, verließ das im Umbruch befindliche Land Anfang der Neunziger. "Ich hatte meine Vision erreicht", sagt er. Also den Jazz, die Musik des Klassenfeindes, etabliert. Ein weiterer Grund, Moskau zu verlassen, war für den aus jüdischer Familie stammenden Chizhik das Gefühl, dass "antisemitische Ideen" damals wieder stärker aufzukeimen begannen. In seinem neuen Lebensmittelpunkt Deutschland - einer seiner ersten Schüler war dort übrigens kurzzeitig Cornelius Claudio Kreusch, einer der beiden künstlerischen Leiter der "Ottobrunner Konzerte" - hatte er damals schon etliche Freunde von früheren Konzerttourneen. Zudem glaubte er hier zu erkennen, dass die Gesellschaft aus der Geschichte gelernt habe.

Von Russland lasse sich das nicht behaupten, kritisiert Chizhik beim Gespräch in seinem Neubiberger Wohnzimmer, in dem natürlich ein Flügel steht. Eine Aufarbeitung der Geschichte habe dort nie stattgefunden, das aktuelle imperialistisch-territoriale Gebaren sei dumm und anachronistisch. Überhaupt: Der Angriffskrieg Putins hat Chizhik schwer mitgenommen, nicht zuletzt die Bombardierung von Charkiw, der Stadt, in der er 18 Jahre seines Lebens verbrachte. "Wir leben in tragischen Zeiten", sagt er. Er hat schon früh klar in einer auf russisch gehaltenen Rede Stellung bezogen ("Die Größe Russlands ist die Größe eines Monsters") und darin erklärt, das Land verhalte sich wie eine "imperialistische Bestie", die einen "Minderwertigkeitskomplex" kompensieren wolle. Er hat zudem zwei Solidaritäts-Lieder für die Ukraine komponiert ("Paine" und "Hope"). Klassischer Patriotismus ist ihm allerdings fremd, er sieht sich als "Weltbürger" und sagt: "Meine Heimat ist die Musik".

Das Marcus Schinkel Trio & Joscho Stephan gestalten den zweiten Abend in Ottobrunn. (Foto: Veranstalter)

Eine Heimat, in der es gleichsam keine Grenzen gibt. Oder zumindest keine, die nicht überschritten werden könnten. Versierte musikalische Grenzgänger sind auch die Protagonisten des zweiten Abends in Ottobrunn: Der Gypsy-Gitarrist Joscho Stephan und der Klassikjazz-Pianist Marcus Schinkel werden am Samstag im Wolf-Ferrari-Haus die Genres unter dem Motto "Classic meets Gypsy" vereinen. Dabei darf sich das Publikum auf Arrangements aus Mozarts "Hochzeit des Figaro", Beethovens "Wut über den verlorenen Groschen", Lizsts "Liebestraum" oder auch das Thema aus "Der Pate" von Nino Rota freuen. Begleitet werden Stephan und Schinkel vom Drummer Wim de Vries und Bassisten Fritz Roppel. "Ich kenne wenige, die so unglaublich Gitarre spielen wie er", sagt Johannes Tonio Kreusch, neben Bruder Cornelius der zweite künstlerische Leiter in Ottobrunn, über Stephan. Er muss es wissen, er ist selbst klassischer Gitarrist. "Wir wollen die Klassik neu beleuchten, und haben Musiker geholt, die sie klanglich neu einkleiden", so Johannes Tonio Kreusch. Leonid Chizhik ist dabei der versierte Altmeister, einer der "mit technischer Brillanz aus der Geschichte des Klangs schöpft", wie ein Kritiker dieser Zeitung einmal schrieb. Ein begnadeter Jazz-Pianist eben, der die Improvisation liebt - und den Imperialismus hasst.

Karten und weitere Informationen zu den Konzerten am 7. und 8. Oktober, Beginn 20 Uhr, gibt es unter Telefon 089/608 08 301 oder -302, https://wfh-ottobrunn.de respektive Reservix.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: