Das Isar-Amper-Klinikum in Haar hebt die Erinnerung an die während der NS-Zeit ermordeten Psychiatrie-Patienten auf eine neue Stufe. Das Ziel: Niemand soll vergessen, jedes Schicksal gewürdigt werden. Deshalb schafft die Klinik mit dem Bezirk Oberbayern als Träger auf dem Gelände der größten psychiatrischen Einrichtung in Bayern einen neuen öffentlich zugänglichen Erinnerungsort. Unter dem Namen "Bibliothek" werden dort Tafeln mit den Namen der circa 4000 im Zuge der sogenannten Euthanasie getöteten Patienten aufbewahrt.
Wöchentlich will man die Tafeln derer, die in diesem Zeitraum Geburtstag hätten, für alle sichtbar präsentieren. Zu den Opfern werden Kurzbiografien erarbeitet, Stelen markieren zudem die Tatorte auf dem Areal. Der neue Erinnerungsort ist Ergebnis eines Arbeitskreises, in dem Vertreter der Klinik und des Bezirks sitzen. Auf dessen Anregung wurde bereits eine detaillierte viele Quadratmeter große Zeitleiste geschaffen, die im Foyer der Hauptverwaltung zu sehen ist. Es wurden Broschüren aufgelegt und Anstöße für Erinnerungsprojekte gegeben, die Klinik arbeitet außerdem mit dem NS-Dokumentationszentrum zusammen.
Es ist gar nicht lange her, da redeten selbst Angehörige von Opfern kaum über die Verbrechen an Psychiatrie-Patienten, welche die Nationalsozialisten unter dem Stichwort T-4-Aktion planmäßig begangen hatten. Das Thema war in Familien lange tabu, der Umgang damit schambehaftet. Den Nationalsozialisten galten alle, die psychisch krank waren und nicht arbeitsfähig, als lebensunwerte Existenzen, die vernichtet werden sollten. Patienten wurden von 1939 an verstärkt in zentralen Einrichtungen wie der Anstalt in Eglfing-Haar zusammengezogen und von dort in Tötungsanstalten wie in Hartheim bei Linz und im württembergischen Grafeneck gebracht. Dort wurden sie vergast.
Als sich seinerzeit öffentlich Widerstand regte, endeten die Transporte, doch in der sogenannten wilden Euthanasie ermordeten Ärzte und Pflegekräfte die Patienten in den Kliniken selbst. Eine nur schwer greifbare Zahl an Menschen wurde so auch direkt in Haar durch überdosierte Medikamente, Nahrungsentzug oder gezielte Vernachlässigung ums Leben gebracht.
Mittlerweile wird dieses dunkle Kapitel mit Unterstützung von betroffenen Familien und Nachkommen sowie des Bezirks, der Zugriff auf die Archive hat, aufgearbeitet. Von etwa 4000 Ermordeten mit Tatbezug Haar wird gesprochen. Deren Namen werden nach und nach benannt: Ein Gedenkbuch listet die Münchner Euthanasie-Opfer auf, ein weiteres Gedenkbuch zu den Opfern aus Oberbayern ist in Vorbereitung. Damit ist die Grundlage gelegt, die Erinnerungsarbeit über allgemeine Beteuerungen und Appelle hinaus zu intensivieren. Kliniksprecher Henner Lüttecke bezeichnet die Nennung der Opfernamen als Frage des "Respekts" und der "Würde" jedes Einzelnen. Zuletzt zeigte die Klinik bei Gedenkveranstaltungen bereits ein Plakat mit Namen und mit dem ersten Satz des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Zur Mahnung ergänzt mit dem durchgestrichenen Wort "nicht".
Mediensäulen mit QR-Codes sollen Interessierten zusätzliches Wissen vermitteln
Der neue Erinnerungsort, der in Planung ist, soll kommendes Jahr öffentlich vorgestellt werden. Das Konzept fand Dienstagabend im Bauausschuss des Haarer Gemeinderats ohne Diskussion einstimmige Unterstützung. Die von einem Baldachin überspannte "Bibliothek" der Namen soll nahe der Hauptverwaltung der Klinik neben dem im Jahr 1990 entstandenen ersten Gedenkort liegen und diesen ergänzen. Dort an der Ringstraße ist nach derzeitigem Stand eine 6,40 Meter lange und 2,40 Meter hohe Gedenk- und Informationswand vorgesehen. Auf der Rückseite wäre in Eichenregalen mit Glastüren das Archiv, in dem die etwa 4000 länglichen, ovalen Tafeln aufbewahrt werden sollen, auf denen die Namen der Opfer und deren Geburtsdatum stehen und die zur Erinnerung wechselnd an der Vorderseite der Bibliothek angebracht werden. Eine Karte soll die Tatorte auf dem Areal zeigen.
An dem so aufgewerteten Erinnerungsort sollen Kliniksprecher Lüttecke zufolge ebenso wie an den Tatorten Glasstelen errichtet werden, die als Mediensäulen mit QR-Code Interessierten übers Smartphone weitere Informationen etwa über die Orte der Verbrechen liefern. Auch an einen Monitor an der "Bibliothek" ist gedacht. Das bisherige Mahnmal aus dem Jahr 1990 habe "gut gepasst" und seine Berechtigung, findet Henner Lüttecke. Aber jetzt komme man zu einer über Statistiken hinausführende Erinnerungsarbeit. Mit den Kurzbiografien wolle man die Opfer dem Vergessen entreißen.