Es ist Nachmittag. Über Nacht hat Nora eine Entscheidung getroffen: raus aus der eigenen Wohnung, weg von ihrem Mann und seiner Gewalt. Gemeinsam mit einer Freundin versucht sie, ein Frauenhaus zu finden, wo sie vorübergehend mit ihren Kindern unterkommen kann. Weder die Polizisten noch die Beratungsstelle können sie vermitteln. Ihre Freundin findet schließlich eine Einrichtung, die ein Zimmer frei hat. Nora kann mit ihren Kindern bleiben, aber nur kurz. Ein anderes Haus wiederum ist zu nah an der Arbeitsstelle ihres Mannes. Erst nach einiger Zeit findet die Mutter im Landkreis München eine Zuflucht für mehrere Wochen und Monate. Die Suche nach einer eigenen Wohnung für die Kleinfamilie, das nächste Ziel, gestaltet sich noch mal um einiges schwieriger.
"Es war nicht immer so", gibt Nora, die in Wirklichkeit anders heißt, einen Einblick in ihr Leben. Sie und ihr Mann seien schon vor den gemeinsamen Kindern lange zusammen gewesen, hätten beide gearbeitet, sie sei unabhängig und selbständig gewesen. Doch über die Jahre habe ihrem Mann das missfallen, vor allem seit die Kinder auf der Welt waren. Er habe verlangt, dass sie zu Hause bleibt und ein Kopftuch trägt, habe sie schließlich komplett von der Außenwelt abgekapselt. Schleichend mit Kontrolle beginne es häufig, sagt Cornelia Trejtnar, die Leiterin der zwei Frauenhäuser im Landkreis München.
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"Er wollte mich eigentlich komplett für sich", fügt Nora hinzu. Sie habe immer versucht, alles perfekt zu machen. Als ihr Mann gewalttätig wurde und sie schlug, habe sie ihre blauen Flecken verdeckt, ebenso wie ausgerissene Haare. Erst als sich seine Gewalt auch gegen die Kinder richtete, fasste sie den Entschluss: So nicht! Ihre Kinder sollten angstfrei aufwachsen, ohne Gewalt und psychische Belastung.
So wie Nora geht es vielen Frauen in Deutschland. Sie leiden unter häuslicher Gewalt, zu der jede Form der sexuellen, psychischen und physischen Gewalt innerhalb der Familie oder einer Partnerschaft gezählt wird. Laut dem Sicherheitsreport der Münchner Polizei wurden allein im Jahr 2022 in Stadt und Landkreis München 3069 Fälle in diesem "Phänomenbereich" verzeichnet, wie es in der Amtssprache heißt. Und das sind nur die bekannten, angezeigten Fälle. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Für dieses Jahr gibt es noch keine Zahlen, doch Cornelia Trejtnar, die Frauenhausleiterin, berichtet, dass ihre beiden Einrichtungen in den vergangenen Monaten bis auf wenige Tage voll belegt waren. Insgesamt 15 Plätze für Frauen und 27 für Kinder gibt es in den beiden Häusern, 228 Anfragen gingen in diesem Jahr schon bei ihr ein.
Cornelia Trejtnar ist seit drei Jahren Leiterin der Frauenhäuser im Landkreis München, die vom Sozialdienst katholischer Frauen betrieben werden. Das erste gibt es seit 2016, das zweite seit 2021. Die Adressen der beiden Frauenhäuser im Landkreis sind nicht öffentlich, um den Schutz der Frauen und der Mitarbeiterinnen zu gewährleisten - auch wenn es immer wieder vorkommt, dass Behörden und Gerichte die Adresse in Schriftsätzen leichtfertig den Männern zur Kenntnis geben. "Das ist in meinen Augen eine Missachtung der Frauen, eine Missachtung dessen, was passiert ist", findet die Sozialpädagogin.
Im März veröffentlichte das Recherche-Netzwerk Correctiv.Lokal Daten aus einer einjährigen Recherche zur Belegungssituation von Frauenhäusern in 13 Bundesländern in Deutschland. Dem Bericht zufolge war in den befragten Frauenhäusern im Schnitt an 303 Tagen keine Aufnahme möglich. Die durchschnittliche Belegungsquote für 2022 lag demnach bei 83 Prozent. Laut einer Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums wurden voriges Jahr in Deutschland 240 547 Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet - ein Anstieg um 8,5 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021.
Zum einen kämen mehr Frauen in die Häuser, da das Thema in der öffentlichen Debatte präsenter geworden ist, sagt Cornelia Trejtnar. Früher hätten viele Betroffene nicht gewusst, wohin sie sich wenden könnten. Allerdings nehmen die Fälle von häuslicher Gewalt in ihrer Wahrnehmung auch tatsächlich zu. Die Ehrenamtlichen, die am Wochenende und nachts die Telefonberatung übernehmen, berichteten von einem enormen Anstieg in den vergangenen Monaten. Gleichzeitig schreckten viele Frauen vor dem Schritt in ein Frauenhaus zurück, weiß Trejtnar. Ihnen fehle schlichtweg die Perspektive. Was kommt nach dem Frauenhaus? Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum im Großraum München verschärfe dieses Problem. Oft blieben Frauen mangels Alternative bei ihrem gewalttätigen Partner.
Oder eben länger in den Frauenhäusern, wodurch für andere Frauen in Not kein Platz frei ist. Mittlerweile blieben viele Frauen bis zu einem Jahr, sagt Trejtnar. Dabei sei die Aufnahme ursprünglich nur für einige Wochen gedacht gewesen. Aber allein Anträge bei den Behörden auf Wohngeld zu stellen, dauere schon Monate. Dann fehlten freie Wohnungen und Frauen oder Alleinerziehende, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, werden nach Trejtnars Erfahrung bei der Vergabe von Sozialwohnungen nicht gerade bevorzugt. Besonders dann nicht, wenn sie aus anderen Bundesländern kommen, was aufgrund akuter Gefährdung immer häufiger der Fall sei.
So erging es auch Nora, die zwar im Großraum München geboren wurde, aber die vergangenen Jahre nicht dort gelebt hat. Sie habe daher bei ihrem Sozialwohnungsantrag nur 30 Punkte erhalten. Die Höchstzahl ist 140. Damit hat sie praktisch keine Chance. Selbst Frauen mit 140 Punkten hätten bis zu acht Monate gewartet, erzählt die Mutter. "Ich hab' dann auch auf Immoscout geschaut und das ist als Alleinerziehende mit mehreren Kindern, ohne festes Gehalt, unmöglich." Seit sechs Monaten ist sie mittlerweile im Frauenhaus. Endlich gibt es einen Lichtblick, bald kann sie ihr "eigenes Reich" beziehen.
Ein Problem ist, wenn Väter weiter Umgangsrecht mit den Kindern haben
Der erste Schritt, also den Entschluss zu fassen, in ein Frauenhaus zu gehen, sei am schwierigsten gewesen und habe viel Mut erfordert, sagt Nora. Unterstützung von außen habe sie nicht bekommen, es habe ja niemand gemerkt, was ihr Mann ihr antat. Auch deshalb der Appell von Cornelia Trejtnar, die Augen aufzumachen. Sie berichtet von Fällen, in denen sich Arbeitgeber bei ihr gemeldet hätten oder eine Vermieterin. Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit sind der Sozialpädagogin besonders wichtig, um für das Thema zu sensibilisieren. Häusliche Gewalt würde auch heute noch abgetan, teils sogar geleugnet. Dabei sei es durch zahlreiche Studien belegt: "Es ist ein Thema in allen Gesellschaftsschichten, in allen Kulturen." Der Täterkreis reiche von Akademikern bis hin zu Kriminellen.
Und dann ist da noch das Umgangsrecht, wenn Kinder im Spiel sind. Selbst wenn einem Mann vor Gericht nachgewiesen wird, dass er seine Frau misshandelt, habe er als Vater ein Recht auf Umgang mit seinen Kindern, sagt Trejtnar. Häufig unbegleitet. "Und es kommt von externen Stellen erschreckend oft der Satz: Ja, das Kind ist ja nicht geschlagen worden. Aber wenn ein Kind jahrelang daneben steht, wenn die Mutter geschlagen oder vergewaltigt wird, dann ist das Gewalt am Kind."
Täter werden nach den Erfahrungen der Frauenhausleiterin wiederum in den seltensten Fällen vom Gericht zu Beratungsstellen wie "Milk", die Männerberatung im Landkreis München, geschickt. Trejtnar wünscht sich daher, dass das Thema häusliche Gewalt ernster genommen wird. "In beide Richtungen. Denn natürlich gibt es auch Gewalt gegen Männer. Das ist genauso ernst zu nehmen. Nur Tatsache ist: Häusliche Gewalt richtet sich in einem hohen Prozentsatz gegen Frauen, das ist einfach ein Macht-Thema."
Die Statistik gibt ihr recht: Im Großraum München waren 2022 laut Sicherheitsbericht 77,7 Prozent der 3104 erfassten Tatverdächtigen Männer. Dies entspreche der Zahl der Opfer: Diese sind seit Jahren konstant zu 80 Prozent Frauen. Ob es dann nicht mehr Frauenhäuser bräuchte? "Das löst nicht das eigentliche Problem", sagt Cornelia Trejtnar, zumindest so lange das Thema bezahlbarer Wohnraum nicht angegangen werde. Zumal ein Frauenhaus nur als Zwischenstation gedacht sei. Auf dem Weg in ein neues, sicheres Leben ohne Gewalt.