Einzelhandel in München:Ein Lebenswerk schmilzt

Lesezeit: 5 min

Franz Fürsts Leben sind die Kerzen. Schon als kleines Kind spielte er fangen in der Werkstatt seiner Familie. (Foto: Robert Haas)

Sogar Papst Benedikt hat hier für seinen Christbaum in Rom bestellt: Nach 160 Jahren muss "Der Wachszieher am Dom" schließen. Aber Franz Fürst wird weiter besondere Kerzen herstellen.

Von Julia Schriever

Franz Fürst hat seiner Mutter bestimmt schon zwanzig Mal gesagt, dass er das Geschäft schließen muss. Ihr Familiengeschäft seit 160 Jahren, "Der Wachszieher am Dom". Seine Mutter ist dement. "Um Gottes willen", sagt sie dann jedes Mal. Es trifft sie immer wieder unvorbereitet. "Was machst denn jetzt, Bua?"

Gute Frage. Aber Franz Fürst hat kaum Zeit zum Nachdenken. Er steht morgens um halb sechs auf, fährt in die Werkstatt, fährt in den Laden, überall stapelt sich die Arbeit. Bestellungen abwickeln, Telefon abmelden, Handwerkskammer informieren.

Franz Fürst, graues Haar, raue Stimme, sitzt in seinem winzigen Büro hinter dem Verkaufstresen. Die Weihnachtszeit ist immer anstrengend in einem Kerzengeschäft, er kennt es gar nicht anders. Die Leute wollen noch schnell Christbaumkerzen oder schlanke, hohe Kerzen für die Weihnachtstafel.

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Als er ein kleiner Junge war, hat er nie Schlittschuhlaufen oder Skifahren gelernt, keine Zeit, der Familienbetrieb versank in Arbeit. Aber jetzt ist Franz Fürst 59 und dieses Jahr muss er mit allem allein fertig werden, alles abschließen. Den ganzen Laden.

"Ich bin ganz froh, dass ich keine Zeit hab', um mir zu viele Gedanken zu machen", sagt Franz Fürst. Gedanken darüber, wie's ihm eigentlich geht damit.

1862 wurde "Der Wachszieher am Dom" gegründet, Franz Fürsts Urgroßvater war dort Geselle und übernahm später den Laden. Seitdem blieb das Geschäft in der Familie. Im Zweiten Weltkrieg wurden 60 Prozent der Münchner Innenstadt zerstört, auch ihr Haus. Aber die Fürsts machten weiter, in ihrer Werkstatt in Sendling, in unterschiedlichen Räumen in der Altstadt. 1991 bezog Franz Fürst den Laden an der Thiereckstraße 2, zur Miete.

Seit 160 Jahren gab es eine Konstante in München: Wer eine gute Kerze braucht, bekommt sie bei Familie Fürst neben der Frauenkirche.

Bis jetzt. Denn im Frühjahr hatte Franz Fürst Besuch vom Sohn seiner Vermieterin: Eigenbedarf, Kündigung, bis zum Ende des Jahres muss Schluss sein. Fürst sagte erstmal nichts. Er ging nach Hause und dachte sich: "Das ist das ganze Lebenswerk, das da jetzt kaputtgeht."

Franz Fürst hat fast die ganze Einrichtung im Laden selbst entworfen und zusammengebaut. Die Regale, in denen die Kerzen stehen, Bienenwachs und Adventskerzen, Christbaumkerzen und kleine kugelförmige. Oben auf den Regalen standen immer die größten Kerzen: für Taufe, Kommunion oder Hochzeit. Sie sind schon weg, verkauft oder abgeräumt.

Seit Wochen wird das Sortiment weniger, an den Regalen steht der Rabatt auf kleinen Zetteln, "-30%". Ein paar Kerzen hat seine Mitarbeiterin ins Schaufenster gestellt, damit es nicht so leer wirkt. "Sieht noch ganz okay aus", sagt sie. Früher wusste man gar nicht, wo man hinschauen sollte in dem Schaufenster - eine Reizüberflutung aus Wachsverzierungen und Schnörkelschrift.

Im Jahr 1991 zog Franz Fürst in den Laden an der Thiereckstraße 2. Im Frühjahr 2022 kündigte ihm der Sohn seiner Vermieterin: Eigenbedarf. (Foto: Robert Haas)

Im Frühjahr überlegte Franz Fürst noch, einen neuen Laden aufzumachen. Er sah sich um, suchte nach Räumen, deren Miete er hätte bezahlen können. Er fand keine. 1991 hatte er einen Mietvertrag für monatlich 8000 Mark abgeschlossen. Das Vermieter-Ehepaar war eine alte Münchner Familie, schon seit Jahrzehnten in der Altstadt, so wie die Familie Fürst ja auch. Die 8000 Mark waren damals schon günstig. Nachbarschaftspreis.

Aber ein paar Jahre später bemerkte Franz Fürst, dass er mit den Kerzen zu wenig verdiente, um Miete, Löhne und seinen Lebensunterhalt zu zahlen. Es reichte hinten und vorne nicht. Er ging damals zur Vermieterin, eigentlich um zu kündigen, aber sie ließ ihn nicht. "Und wenn ich mit der Miete runtergeh'?", fragte sie. Franz Fürst erinnert sich noch gut an das Gespräch. "Mei, da müssten Sie ja um 3000 Mark runtergehen", sagte er. Da entgegnete sie: "Dann mach'ma des." Also zahlte er nur noch 5000 Mark, später 2630 Euro mit Nebenkosten. Die wohl niedrigste Ladenmiete in der ganzen Münchner Altstadt.

Kurze Zeit später lernte Franz Fürst seine Frau Zdenka kennen, sie half an Weihnachten bei ihm im Kerzengeschäft aus und entdeckte, wie viel Spaß ihr die Arbeit machte. Ab da waren sie ein Team: Er zog die Kerzen, sie verzierte sie. "Der Wachszieher am Dom" wurde zum Spezialgeschäft für Sonderanfertigungen.

Kommunionkinder kamen mit der Oma und tobten sich aus mit den Motiven für die Kommunionkerze. Brautpaare ließen sich ihre Hochzeitskerzen mit Blümchen, Ringen und mallorquinischen Bergen verzieren. Menschen ließen sich Kerzen nach Berlin, Chicago und Brooklyn schicken. Selbst Papst Benedikt XVI. bestellte jedes Jahr 500 Christbaumkerzen nach Rom. Es war so viel Arbeit, dass sie bald eine zweite Verziererin anstellten, Claudia Slanzi, eine Künstlerin aus Südtirol.

2005 bis 2017, "das waren die goldenen Zeiten", sagt Franz Fürst. Er lächelt, als er beim Gespräch in seinem Büro davon erzählt. Über seinem Schreibtisch an einer Pinnwand hängen Fotos und Sterbebildchen. "Ende 2017 kam dann das Unglück über uns", sagt er. Vor Weihnachten bekam seine Frau starke Rückenschmerzen, ein paar Monate später wurden der Lungenkrebs und die Metastasen entdeckt. Er pflegte sie zwei Jahre, kümmerte sich um die zwei kleinen Töchter.

Im Herbst 2018 starb sein Bruder bei einem Fahrradunfall. Auch der Bruder war Wachszieher-Meister gewesen, er hatte die Werkstatt der Familie in Sendling geleitet. Franz Fürst versuchte, auch noch den Betrieb dort aufrechtzuerhalten. Und im Oktober 2019 starb seine Frau.

Franz Fürst musste sich jetzt um den Laden und die Werkstatt, um die Töchter, seine demente Mutter und seine blinde Tante kümmern. Nie hatte er frei, hetzte von einem Termin zum nächsten, fünf Tage vor Weihnachten hatte er noch kein einziges Geschenk besorgt. Ein Mensch, der die Arbeit von mindestens dreien zu bewältigen versuchte. Als der Sohn der Vermieterin ihm kündigte und er kein neues Geschäft fand, dachte er sich: Ist vielleicht ein Zeichen, dass du aufhören sollst.

Da meldete sich Claudia Slanzi zu Wort, seine Verziererin, quirliges Gemüt, 46 Jahre, davon gut 20 Jahre bei ihm angestellt. "Was ist, Franz, wenn ich versuche, einen neuen Laden aufzumachen?" Franz Fürst gefiel die Idee sofort: Er könnte die Werkstatt in Sendling weiterführen, die Kerzen ziehen, und Claudia Slanzi würde sie im neuen Geschäft verzieren und verkaufen. Sie suchte den ganzen Sommer über nach Räumen, Franz Fürst schickte ihr immer wieder Annoncen, selbst ihre Stammkunden halfen mit und hörten sich um. Im Herbst fand Claudia Slanzi einen Laden in der Sendlinger Straße 62. Nicht billig, aber im Rahmen.

Claudia Slanzi wollte nicht aufhören. Für sie war klar, dass sie weiter Kerzen verzieren und verkaufen will. (Foto: privat)

"Ich hab das Gefühl, das muss ich jetzt machen", sagt sie am Telefon. Sie ist gerade dabei, den Laden einzurichten. Franz Fürst hat ihr alle seine Holzmöbel angeboten, einige wird sie mitnehmen. Selbst den Namen seines Geschäfts "Der Wachszieher am Dom" hätte er ihr überlassen. Sie entschied sich, lieber einen eigenen Namen auszusuchen: "Cera-Kerzen" kommt aus dem Italienischen und bedeutet Wachskerzen. Am 9. Januar will sie eröffnen. Aber bis zum 31. Dezember hilft sie Franz Fürst natürlich noch in seinem Laden. Beim Weihnachtsgeschäft, beim Abschluss.

Franz Fürst wird "Der Wachszieher am Dom" bleiben, auch wenn er dann nicht mehr am Dom ist. Großkunden wie die Münchner Kirchen wird er weiter mit seinen Kerzen beliefern. Und von den Stammkunden hofft er, dass sie in Claudia Slanzis Geschäft mitziehen. "Ich würd' mich freuen, wenn das Geschäft in der Familie bleibt", hat er vor ein paar Monaten zu ihr gesagt. Sie hat gelacht, "ich bin doch gar nicht aus deiner Familie." Und Franz Fürst sagte: "Doch, du gehörst inzwischen dazu."

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