Literatur:Geister, die sie rufen

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Fast wäre Karen Leeder Ingenieurin geworden - statt dessen schraubt sie sehr erfolgreich an Wörtern herum. (Foto: Stephan Rumpf)

Mit den Gespenstern der Geschichte hat die britische Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Karen Leeder, derzeit im Rahmen einer "Lyrik Residency" in der Villa Waldberta in Feldafing zu Gast, immer wieder zu tun - nicht nur, wenn sie Durs Grünbeins Verse übersetzt.

Von Antje Weber

Als sie hier ankam, war es ganz still. Menschenleer erschien ihr die Villa Waldberta, obwohl noch fünf weitere Stipendiaten derzeit in Feldafing wohnen. "Ich dachte, ich raste aus", sagt Karen Leeder. Inzwischen hat sie sich an die Ruhe gewöhnt, sie will kaum mehr weg. Da ist "der Sog der Villa", den sie jetzt spürt, "der See". Einen Turm gibt es auch in der Villa, und vielleicht, wie man munkelt, Gespenster. Sie kämen wie gerufen, denn Geister aller Art sind ein großes Thema der Literaturprofessorin aus Oxford, die zudem als eine der wichtigsten britischen Lyrik-Übersetzerinnen gilt.

An diesem glutheißen Hochsommertag jedoch hat sich Karen Leeder in die von allen guten Geistern verlassene, weil wieder mal gestörte S-Bahn gesetzt und ist nach München ins Lyrik Kabinett gefahren. Das wird sie noch öfters tun in den nächsten Wochen, schließlich dauert ihre "Lyrik-Residency" bis Ende September. Und Karen Leeder freut sich nicht nur, in München zur Abwechslung mal unter Menschen zu sein. Sie arbeitet hier auch an neuen Übersetzungen von Gedichten Durs Grünbeins und vergleicht in der Bibliothek diverse Ausgaben, die zum Teil unterschiedliche Texte aufweisen: "Man merkt, dass Durs schnell schreibt und die Sachen verändert."

Karen Leeder steht allerdings nicht nur mit Durs Grünbein und seinen Gedichten auf Du und Du. Wer sich ihre seitenlange Veröffentlichungsliste anschaut, von wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern bis zu Übersetzungen von Werken Volker Brauns und Michael Krügers, Ulrike Draesners und Ulrike Almut Sandigs, droht erst in Ehrfurcht zu erstarren - und darf sich angesichts des fröhlichen Lachens der sympathisch lässig wirkenden Britin dann doch langsam wieder locker machen. Hier sitzt ein Mensch, keine Institution - auch wenn diese Wissenschaftlerin eine nicht zu unterschätzende Funktion für die Vermittlung deutscher Literatur in Großbritannien und den USA hat.

Dabei wäre Karen Leeder, 1962 geboren und in Rugby bei Coventry aufgewachsen, fast Ingenieurin geworden wie ihr Vater. Als Schülerin reiste sie anlässlich eines Partnerstadt-Austauschs nach Rüsselsheim - und wandte sich danach doch den Wörtern statt Autos zu: "Ich fand es so schön", sagt sie versonnen, "ich war eine Andere. Ich konnte eine Andere sein in der deutschen Sprache." Schnell kam die Begeisterung für die Literatur dazu, für Goethe, Dürrenmatt, ja sogar Gotthelfs "Die schwarze Spinne". Leeder lächelt, wenn sie daran denkt: "Ich war so begeistert von allem."

In den Achtzigerjahren tauchte sie in die Prenzlauer-Berg-Szene in Ostberlin ein

Zur Begeisterung trug manche Feldforschung bei: Nach dem Studium beschäftigte sich Leeder für ihre Doktorarbeit mit den Untergrund-Poeten vom Prenzlauer Berg in Ostberlin. Sie reiste schon in den Achtzigerjahren in die DDR, tauchte in die Samisdat-Szene ein, zu der Bert Papenfuß und Sascha Anderson gehörten, am Rande auch Grünbein. "Eine kuriose Zeit", sagt Leeder, und: "Ich war infiziert." Alles habe wie Boheme gewirkt, ohne es wirklich zu sein. Man habe damals schon spüren können, dass es "ein Wir aus Angst" gewesen sei, wie Papenfuß einmal gesagt habe. Auch wenn dort letztlich keine Utopie gelebt wurde, auch wenn, wie man aus heutiger Sicht ergänzen könnte, später das eine oder andere Stasi-Gespenst aus dem Untergrund herauf linste: "Die Lyrik damals war so wichtig", wie Leeder sagt, nicht nur als Experiment, sondern "als Leben".

Sie selbst war "diese komische Engländerin, die auftauchte", ob in Ostberlin oder Ilmenau, und freundlich empfangen wurde. Damals wurden weitere Funken des Interesses für die deutsche Literatur bei ihr entfacht, die seither nicht erloschen sind. Karen Leeder entwickelte sich unter anderem zu einer Expertin für DDR-Autoren und hat tatsächlich auch über Gespenster in der DDR-Literatur geschrieben. Von denen habe es insbesondere um 1990 herum viele in Literatur, Film und Kunst gegeben, sagt sie, und nennt zum Beispiel Heiner Müllers "Hamletmaschine". Ein Gespenst tauche dann auf, "wenn etwas gesagt werden muss, was nicht gesagt werden kann". Es störe die Gegenwart, erinnere an eine unterdrückte Vergangenheit - ob es nun um die Gespenster der DDR gehe oder die Aufarbeitung des Faschismus.

"Säkulare Engel fliegen verloren durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts"

Das interessiert Karen Leeder, die "Schichten der Geschichte". Wobei sie sich für vieles interessiert, ihr breites Spektrum reicht von Brecht über Ingeborg Bachmann bis zu Rilke, und in Zusammenhang mit Letzterem auch bis zum Thema Engel. Passt das nicht gut zu den Gespenstern? Wenn Leeder über solche Themen spricht, klingt sie jedenfalls ganz un-esoterisch: "In einer Welt, in der Gott nicht mehr existiert, braucht man das Bild eines go-between", eines vermittelnden Wesens, sagt sie, auf das man viel projizieren könne. Und sie hat festgestellt: "Säkulare Engel fliegen verloren durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts."

Das würde man jetzt gern vertiefen, doch nun gilt es endlich, das Thema Lyrik-Übersetzung anzufliegen. Irgendwann nämlich fing Leeder an zu übersetzen, denn "da waren so viele wunderbare Gedichte, die man nicht kannte im Englischen". Sie spürte schnell, dass ihr die Lyrik näher lag als die Prosa: "Ich verstehe die Lyrik", sagt sie schlicht. "Ich fühle mich so glücklich, wenn ich es mache, ich fühle mich in my element." Dass dieses Gefühl nicht trügt, bestätigen nicht nur zahlreiche Auszeichnungen. Es lässt sich auch gut nachvollziehen, zum Beispiel an einem Gedicht aus Ulrike Almut Sandigs neuem Band "Leuchtende Schafe", den Leeder derzeit übersetzt. Darin findet sich etwa ein konkretes Gedicht in der Form eines Fesselballons. Leeder nun ist es nicht nur gelungen, den Inhalt so luftig-leicht wie genau zu übertragen, sondern im Englischen auch die Form des Ballons zu wahren. Wie sagt sie selbst: "Kein Wort ist dasselbe, aber das Gefühl!"

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Das Gefühl, den " Spirit" zu übertragen, hält sie beim Übersetzen ohnehin für das Wichtigste. Und da muss man jetzt doch kurz auf die Besonderheiten des Deutschen und Englischen zu sprechen kommen. "Deutsch ist eine abstraktere Sprache", sagt Leeder, das Englische dagegen sei eher präzise und scheue die Abstraktion. Das Deutsche sei außerdem eine "viel kleinere Sprache", womit sie meint: mit einem geringeren Wortschatz. Dafür könne man im Deutschen ja sehr viele Worte aneinanderhängen, "zusammenschrauben". Karen Leeder lacht. Die verhinderte Ingenieurin, kann sie jetzt zumindest an Wörtern herumschrauben?

Noch ein Unterschied zwischen den Sprachen: Das Deutsche reime sich viel leichter als das Englische, sagt Leeder. Und damit wäre man wieder bei Durs Grünbein. Sie übersetzt derzeit zwar vor allem neuere Gedichte von ihm, zum Beispiel aus dem gerade erschienenen Band "Äquidistanz", in dem er auf Reime verzichtet: "Das macht alles etwas einfacher." Zuvor jedoch hat Leeder sich lange mit seinem Band "Porzellan" beschäftigt. Anhand von dessen Übersetzung, für den sie 2021 den Schlegel-Tieck Prize bekommen hat, lässt sich ziemlich viel erklären - über Durs Grünbein, über Karen Leeder, und über die Gespenster der Deutschen sowieso.

Durs Grünbeins Poem "Porzellan" - eine besondere Herausforderung

"Porzellan" ist ein gereimtes "Poem" über den Untergang der Stadt Dresden 1944, zerstört von britischen Bombern. Der Band wurde von der deutschen Kritik bei seinem Erscheinen 2005 fast einhellig verrissen - falsches Pathos und eine unpassend antikisierende Form wurde Grünbein unter anderem vorgeworfen. Leeder fand das ungerecht - und wollte das Buch unbedingt übersetzen. Wie nur mit der Form klarkommen? Während in der deutschen Lyrik (und bei Grünbein) klassische Versmaße wie der Hexameter ihre Spuren hinterlassen hätten, sei das Englische von Shakespeare geprägt, vom Pentameter, vom Jambus; jede Sprache habe "einen anderen Sinn für Rhythmus", sagt Leeder, "das finde ich interessant".

Um viele Überlegungen und Jahre zusammenschnurren zu lassen: Leeder hat es schließlich geschafft, sowohl Rhythmus als auch Reime adäquat zu übertragen. Und ihr ist es gelungen, für dieses Werk auf eine Weise Verständnis zu wecken, die auch für die deutsche Rezeption bedeutsam sein könnte. Denn im Englischen hat sie den Band nicht nur mit einem klugen Vorwort versehen, sondern auch mit einem ausführlichen Anhang: Darin erklärt sie die vielen versteckten Zitate, in denen Grünbein zum Beispiel auf Paul Celan anspielt. Hier kann die Wissenschaftlerin ihre enormen Kenntnisse ausspielen - und man fragt sich, ob sich die nicht auch für eine neue deutsche Ausgabe nutzbar machen ließen, um einen zweiten Blick auf dieses Werk zu ermöglichen? Wobei selbstverständlich auch Leeder bewusst ist, wie politisch heikel ein Buch ist, in dem die Deutschen als Opfer eines Krieges beschrieben werden, den sie selbst begonnen haben. Als sie ihre Übersetzung etwa in den USA vorgestellt habe, seien viele Leser mit deutschem Hintergrund "entsetzt" gewesen. Leeder dagegen findet den Text in seinen vielen Brechungen interessant, außerdem: "Wer darf über ein Trauma schreiben - und wie? Das ist eine große Frage."

Es gibt manche schwierige Frage, manche Gespenster in der deutschen Geschichte. Karen Leeder überlegt derzeit, ob sie nicht ein weiteres Buch darüber schreiben soll, wie sie durch die deutsche Literatur fliegen. Ein schwebendes Projekt, für das sie vielleicht in der Villa Waldberta zusätzlich Inspiration findet: Könnte ja sein, dass deren Gespenst in diesem Sommer mal bei ihr vorstellig wird.

Werkstattgespräche mit Karen Leeder: 18. Sept., 11 Uhr, Villa Waldberta Feldafing (mit Ulrike Almut Sandig); 21. Sept., 19 Uhr, Lyrik Kabinett München (mit Durs Grünbein)

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