Nachruf auf Joe Viera:Professor und Pionier

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Nicht nur als Festivalleiter, auch mit seiner didaktischen Arbeit ermöglichte Joe Viera zahllose deutsche Jazzkarrieren. (Foto: Oskar Henn)

Mit Joe Viera, dem Mitgründer und jahrzehntelangen Leiter der Jazzwoche Burghausen, ist einer der bedeutendsten deutschen Jazzvermittler gestorben.

Von Oliver Hochkeppel

Die Geschichte ist legendär: Im September 1969 hatte der Jazzmusiker und -fan Helmut Viertl, den sein Zivilberuf als Gerichtsvollzieher ein paar Jahre zuvor nach Burghausen verschlagen hatte, den Münchner Saxofonisten und Jazz-Dozenten Joe Viera zu einem Vortrag in seinen erst im Jahr zuvor gegründeten kleinen Burghauser Jazzclub "Birdland" eingeladen. Das Referat über "Jazz im Film", sowieso schon ohne das von Viera dazugedachte Konzert angesetzt, wuchs sich zu einem Desaster aus.

Nur eine Handvoll Leute waren erschienen, dann streikte der Projektor, schließlich wurde Viera am nächsten Morgen im Hotel festgesetzt, weil niemand sein Zimmer bezahlt und er selbst "gar nicht genug Geld dabei" hatte, wie er später berichtete. "Nie wieder Burghausen" habe er gedacht, als ihn Viertl auslöste und zum Bahnhof fuhr. Der vorgesehene Zug war natürlich schon lange weg, man saß also in Viertls VW Käfer an diesem "WC mit Haltestelle", wie Viertl den noch heute nicht besonders frequentierten und gastlichen Bahnhof nannte, kam ins Reden, erzählte sich seine Lebensgeschichten - und plante "etwas Großes."

Tatsächlich richteten die beiden schon ein halbes Jahr später, vom 3. bis 8. März 1970, die erste "Jazz-Woche Burghausen" aus, mit vier Konzerten, einem Vortrag und einer Diskussionsveranstaltung. Den Abschlussabend mit dem damals berühmten österreichischen Trompeter Oscar Klein zeichnete bereits der BR auf. Die Sache schlug ein, wurde schnell größer, zog bald, da es noch kaum Jazzfestivals in Europa gab, alle internationalen Stars an und wurde zur wichtigsten bayerischen Institution dieser Art und weit darüber hinaus. Bis 2022, also mehr als rekordverdächtige 50 Jahre lang, leitete Joe Viera offiziell das Festival. Zum Abschied bekam er die 52. Bronzeplatte in der "Street of Fame" vor dem Mautnerschloss mit dem Jazzkeller, und reiht sich damit unter die großen, hier aufgetretenen Stars von Count Basie bis Esbjörn Svensson ein.

Typisch, dass Viera nicht selbst zum Verlegungsakt erschien, sondern nur ein knorriges Grußwort schickte. Verfügte er doch nicht nur über einen ganz eigenen, knochentrockenen Humor samt ausgeprägter Formulierungsgabe, sondern auch über einen rechten Dickkopf. Und so war er den Burghausern gram, dass man ihm nicht nur die Leitung des Festivals, sondern auch die der Workshops abgenommen hatte. Diese Jazzkurse, die er bereits ab 1972 gab, waren ihm mindestens so wichtig wie das Festival selbst. Und das zurecht, waren sie doch die Keimzelle zahlloser Jazz-Initiationen und -Karrieren. Gitarristen wie Helmut Nieberle und Helmut Kagerer, Bassisten wie Thomas Stabenow oder Dieter Ilg, Schlagzeuger wie Guido May, Bläser wie Roman Schwaller, Peter Weniger oder Claus Reichstaller - später alle selbst Jazz-Institutsleiter -, sie alle sind durch Vieras Schule gegangen.

Mehr als 13 000 Teilnehmer addieren sich bis heute, nimmt man seine "Reihe Jazz" mit wegweisenden Unterrichtswerken dazu, die akademische Pionierarbeit an der Gesamthochschule Duisburg und an der Musikhochschule Hannover, später in München und Passau, die Gründung und Leitung der Lehrer Big Band Bayern, der Uni Big Band München, der Union Deutscher Jazzmusiker wie der Internationalen Jazzföderation, dann darf man konstatieren: Joe Viera war der deutsche Jazzprofessor und -multiplikator, eine Rolle, die den Saxofonisten, Arrangeur und Festivalmacher noch in den Schatten stellt.

Als Bub hörte er die heimlich kursierenden Schellackplatten und den verbotenen "Feindsender"

In die Wiege gelegt wurde ihm diese Berufung nicht. 1932 in München geboren und seitdem dort lebend, studierte Viera nach Krieg und Abitur zunächst Physik. Er machte auch das Diplom, aber da hatte sich der Jazz schon übermächtig in sein Leben gedrängt. Diese Dualität hat ihn freilich geprägt, wie er einmal betonte: "Von der Physik habe ich das Denken gelernt, von der Musik das Fühlen." Als Kind hatte er ganz klassisch Blockflöte und Klavier erlernt, aber schon früh faszinierten ihn die schrägeren Klänge und Rhythmen, die er als Bub auf heimlich kursierenden Schellackplatten und den verbotenen "Feindsendern" hörte. Bei den 72 Bombenangriffen auf München, die er miterlebte, wurden sie zum "Überlebensmittel". Und schließlich, nach dem Physik-Intermezzo, zu seinem Beruf.

Von einem Freund hatte Viera unter Aufbietung aller finanziellen Möglichkeiten ein Sopransaxofon gekauft und sofort eine Band gegründet. Das Alt kam schnell dazu, später stieg er noch auf Tenor um. Die ersten Schritte unternahm er mit Dixieland, bei den eigenen Riverboat Seven wie bei den Hot Dogs. Rasch aber weitete sich der musikalische Horizont, und ab den frühen Sechzigern nahm die Bandbreite der modernen Stile vom Bebop bis zum Freejazz parallel zur Vergrößerung seiner Bands zu. Vom Duo mit dem Pianisten Erich Ferstl ging es über ein Trio mit dem Bassisten und späteren ECM-Gründer Manfred Eicher und ein Quartett bis zum Sextett der späten Siebzigerjahre, das auch auf LP dokumentiert ist.

Neugier und Offenheit waren auch die Basis seiner Rolle als Jazzvermittler, die sich immer mehr in den Vordergrund schob. Nicht nur zahllose Musiker konnte er damit begeistern, auch das Burghauser Publikum, dem er stets alle Facetten des Jazz nahebringen wollte. Rückzug und Kürzertreten war seine Sache nie - "zum Aufhören habe ich keine Zeit" war einer seiner typischen Sprüche. Obwohl er sich inzwischen mit dem Gehen schwertat, feierte er noch seinen 90. Geburtstag standesgemäß mit einem Konzert seiner Uni Big Band in der Unterfahrt. Sicher gegen seine Überzeugung ist Viera nun Samstagnacht an den Folgen eines Sturzes gestorben, fünf Monate vor seinem 92. Geburtstag.

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