Untergriesbach:Ziemlich beste Freunde

Lesezeit: 4 min

41 Jahre lang schrieben sie sich Briefe, Karten und Telegramme: Reiner Kunze (links) und Jürgen P. Wallmann 1973 in Leipzig. (Foto: privat)

Reiner Kunzes deutsch-deutscher Briefwechsel mit dem Journalisten Jürgen P. Wallmann, herausgegeben von Heiner Feldkamp, zeichnet eine tiefe Freundschaft nach und beleuchtet die Entstehungsgeschichte zentraler Werke des Lyrikers.

Von Sabine Reithmaier, Untergriesbach

"Der Briefwechsel mit Dir ist für mich eine Art Nabelschnur zur Welt." Schreibt Reiner Kunze im Dezember 1972 an Jürgen P. Wallmann und dankt für die "ungezählten teuren Briefe", mit denen ihm der Journalist aus dem Westen den "Horizont so weit wie möglich gehalten" hat. Der Dichter, damals noch in Greiz, also in der DDR lebend, und der Literaturkritiker waren sich im März 1969 zum ersten Mal auf der Leipziger Buchmesse begegnet. Daraus entwickelte sich eine intensive, freundschaftliche Beziehung, die erst mit dem Tod Wallmanns 2010 endete. Den Briefwechsel der beiden hat Heiner Feldkamp, ein langjähriger, behutsamer Erkunder von Kunzes Werk, gesichtet und in der Edition Toni Pongratz ein großartiges Buch herausgebracht. Feldkamps klug kommentierte Auswahl zeichnet anhand der Korrespondenz eine innige Freundschaft nach und beleuchtet die Entstehungsgeschichte zentraler Werke des Dichters.

Kunze und Wallmann schrieben sich 41 Jahre lang Briefe, Karten und Telegramme. Von den knapp 600 Einzeldokumenten, die im Archiv der Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung in Obernzell-Erlau liegen, sind 91 im Buch wiedergegeben. Feldkamp hat seine Auswahl auf die Zeit zwischen 1969 bis 1977 konzentriert, jene Jahre, die prägend für das Leben und die Karrieren beider waren. Der Lyriker, Jahrgang 1933, hatte 1969 mit seinem Gedichtband "sensible wege" einen ersten größeren Erfolg in der Bundesrepublik, Wallmann wurde jedenfalls dadurch auf ihn aufmerksam. Ein Jahr später folgte sein Kinderbuch "Der Löwe Leopold", ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis. Nach einem weiteren Gedichtband ("zimmerlautstärke") erschien, ebenfalls im Westen, 1976 das bis heute erfolgreichste Werk des Schriftstellers, der Prosaband "Die wunderbaren Jahre". Das DDR-kritische Buch brachte seinem Autor den Ausschluss aus dem Schriftstellerverband ein, was einem Berufsverbot gleichkam. Im April 1977, nur wenige Monate nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976, verließ der völlig isolierte Kunze mit Frau und Tochter die DDR.

In dieser Zeit arbeitete Wallmann, 1939 in Essen geboren, als freiberuflicher Literaturkritiker und Essayist für verschiedene Medien und avancierte dank seiner Arbeiten zur DDR-Literatur - er begleitete unter anderem auch die Rezeption von Sarah Kirsch, Wolf Biermann oder Volker Braun - schnell zu einem gefragten Publizisten. Bald galt er als erste Adresse, wenn es um Texte zu Kunze ging, denn so zeitnah und detailliert wie er konnte kein anderer über den Lyriker und Übersetzer berichten.

"Alles hilft, was Öffentlichkeit macht"

Kunze, der seit seinem Austritt aus der SED 1968 kaum mehr publizieren durfte, ist früh bewusst, wie sehr er auf die Vermittlung seiner Werke im Westen angewiesen ist. "Alles hilft, was Öffentlichkeit macht", schreibt er an seinen Freund am 14. Januar 1971. Wallmann bespricht seine Bücher in westdeutschen Medien, stellt sie in Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen vor. Aber er hilft auch in konkreten Alltagsdingen. Besorgt Briefumschläge, Winterschuhe oder einen Kopfhörer. Überprüft auch mal ein Zitat von Max Frisch in einem Buch, auf das Kunze keinen Zugriff hat.

Natürlich wissen beide um ihre ständigen Mitleser. Kunze spricht im Brief vom 11. September 1970 auch direkt von "Damen oder Herren, die da mitlesen". Dass die Briefe verzögert oder gar nicht zugestellt werden, ist schon fast normal. Den Dauerärger mit der Post verarbeitet Kunze auch poetisch im Zyklus der "einundzwanzig variationen über das thema 'die post'": "Brief du / zweimillimeteröffnung / der tür zur welt du / geöffnete öffnung du / lichtschein, / durchleuchtet, du // bist angekommen..." Die Offiziellen des DDR-Schriftstellerverbands nehmen Kunze den Spott ziemlich übel.

Von 1972 an duzen sich Journalist und Autor. In die Korrespondenz fließt Privates ein, etwa die Trennung Wallmanns von seiner ersten Frau oder Kunzes Sorgen um die Adoptivtochter Marcela, der die Entlassung aus der Oberschule droht, sie hat sich ideologisch nicht korrekt verhalten. Natürlich freut sich Wallmann mit, als während einer kurzzeitigen Liberalisierung der Kulturpolitik unter Erich Honecker 1973 ein Auswahlband mit Gedichten Kunzes in der DDR erscheinen darf. Die zwei Auflagen von "brief mit blauem siegel" (jeweils 15 000 Exemplare) sind schnell vergriffen. Kunze darf öffentlich lesen und auftreten. "Es war ja, nebenbei bemerkt, das erste Mal in meinem Leben, daß ich in der Hauptstadt der DDR öffentlich einen ganzen Abend hatte, um aus meinen Büchern vorzulesen", teilt er am 29. November 1973 Wallmann nach einer Lesung mit. Doch die Freude währt nicht lange. Als Kunze seine Ernennung zum ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Sommer 1974 nicht widerrufen will, fällt er als "unverbesserlicher Gegner" (Brief vom 22.4.1975) wieder in Ungnade. Und rechnet aufgrund des wachsenden Drucks von da an mit seiner Ausweisung.

Die Entstehung der "Wunderbaren Jahre" dominiert die Briefe zwischen 1975 bis 1977. Kunze weiß früh, dass das Buch nur im Westen erscheinen kann. Eine vorzeitige Entdeckung des Manuskripts in der DDR will er unbedingt verhindern. Schließlich schickt er Wallmann im Oktober 1975 über die Ständige Vertretung der BRD in Ost-Berlin den größten Teil des Manuskripts, autorisiert ihn in einem langen Brief, in seinem Namen einen Vertrag mit einem Verlag abzuschließen, für den Fall, dass er selbst nicht mehr in Freiheit sein sollte. Während er am letzten Teil schreibt, beginnen er und seine Frau die Wohnung auf eine Durchsuchung vorzubereiten. Und sich auf andere Schikanen einzustellen. "Natürlich bin ich auch darauf vorbereitet, dass ich einige Jahre absitzen werde" (28. Januar 1976).

Wallmann enttäuscht das in ihn gesetzte Vertrauen nicht. Kunze ist ihm ewig dankbar. "Im Parlament der Dichter wird man nach deinem Ableben sagen: Er hat sich um seinen Freund K. verdient gemacht. Hoffentlich wird man dann nicht hinzusetzen: Verzeihen wir ihm!" (Kunze am 5. Juli 1972).

Nabelschnur zur Welt. Reiner Kunzes deutsch-deutscher Briefwechsel mit Jürgen P. Wallmann, herausgegeben von Heiner Feldkamp. Edition Toni Pongratz, 180 S., 28 Euro.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: