Poesie:Stoßdämpfer für den Kopf

Reiner Kunze

"Das Wesen Mensch" ergründet Reiner Kunze auch in seinem neuen, gerade erschienenen Gedichtband "die stunde mit dir selbst".

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Der Dichter Reiner Kunze wird 85 und baut sein Lebenswerk aus

Von Sabine Reithmaier, Erlau

Der Dichter ist beschäftigt. Auch der 85. Geburtstag, den Reiner Kunze an diesem Donnerstag feiert, hält ihn nicht lang von seinem Lebenswerk ab. "Wir verwalten und gestalten und komplettieren das Archiv", sagt er am Telefon. Seit er und seine Frau Elisabeth im Jahr 2006 eine Stiftung gegründet haben, die nach dem Tod des Ehepaars das gemeinsame Haus in eine "Stätte der Zeitzeugenschaft und einen Ort des Schönen" umwandeln soll, reißt die Arbeit nicht ab. Und über den eben erschienenen, neuen Gedichtband "die stunde mit dir selbst" (S. Fischer Verlag) will er in aller Bescheidenheit auch nicht reden.

Das Buch sei draußen und müsse seinen Weg selbst finden, sagt sein Schöpfer. Elf Jahre sind seit dem vorherigen Gedichtband "Lindennacht" vergangen. Nein, er brauche nicht immer länger, wehrt Kunze ab. "Nur die Skrupel werden immer größer." Auf die Welt blickt er jedenfalls - daran lassen die Gedichte keinen Zweifel - voller Sorge. Trilliarden Sonnen treiben in Milliarden Galaxien von der Erde fort. "Sie fliehen uns, als wüßten sie,/ vor wem sie fliehen", heißt es in "Das Wesen Mensch".

Die aktuelle politische Entwicklung findet Kunze furchtbar. So eingekeilt zwischen Trump, Putin und Erdoğan - "Grund zur Weltangst besteht durchaus", sagt er. Immerhin bleibt ihm die Poesie als "hirnstoßdämpfer". Kritisch reflektiert er in den Gedichten sein Leben. "Nicht noch einmal/ so verführbar / Nicht noch einmal / so gefährdet / Nicht noch einmal / eine mögliche gefahr." "Portraitfoto von sich selbst von vor sechzig Jahren" hat er diese Verse genannt, eine Erinnerung an eine Zeit, als der 25-jährige Kunze noch zu den Hoffnungen der DDR zählt. 1933 als Kind eines Bergarbeiters und einer Heimarbeiterin im sächsischen Oelsnitz geboren, studiert er Philosophie und Journalistik in Leipzig, arbeitet als wissenschaftlicher Assistent. Als ihm Genossen 1959 vorwerfen, er würde Studenten im Unterricht negativ beeinflussen, kündigt er und arbeitet als Hilfsschlosser in einer Fabrik. Knapp zehn Jahre später tritt er, inzwischen freier Schriftsteller in Greiz, aus der SED aus; der Grund sind die sowjetischen Panzer, die den Prager Frühling erdrücken. Die Stasi legt eine Akte über ihn an. Kunze gibt sie 1990 in Auszügen heraus und entlarvt mit "Deckname Lyrik" Ibrahim Böhme, den Vorsitzenden der DDR-SPD, als langjährigen Mitarbeiter der Staatssicherheit.

1976 erscheint im Westen der Prosaband "Die wunderbaren Jahre". Kunze fliegt aus dem DDR-Schriftstellerverband, die Repressalien verdichten sich, eine Haftstrafe droht. Anfang 1977 stellt er für sich und seine Familie einen Ausreiseantrag. Binnen drei Tagen wird er bewilligt. Die Kunzes lassen sich in Erlau in der Nähe von Passau nieder. Der Schriftsteller hält auch in Westdeutschland an seiner DDR-Kritik fest. "Von dort, woher wir kommen, kommt kein neuer Anfang für die Menschheit" - den Satz verübeln ihm die Linksintellektuellen jahrelang.

Doch Kunze bleibt konsequent. Als der westdeutsche Schriftstellerverband den Wiedervereinigungsanspruch aufgibt, tritt er sofort aus. All diese Geschichten hinter den Geschichten werden nachzuvollziehen sein in der "Stätte der Zeitzeugenschaft". Natürlich kein Dichtermuseum - das würde Kunze peinlich finden -, sondern ein Angebot an die Nachgeborenen, das ihnen helfen soll, die jüngere Historie Deutschlands und damit den Hintergrund der Bücher Kunzes zu verstehen. Vielleicht immunisiert die Dokumentation auch gegen ideologisch motivierten Druck, all das, was lang Kunzes Alltag ausmachte. Und möglicherweise erklärt sie auch, woher die Kraft zum Widerstand kam. "Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt" - die Zeile aus Paul Celans "Corona" war in der DDR ein sicheres Erkennungszeichen für eine kritische Haltung. Im jüngsten Gedichtband taucht sie wieder auf, allerdings in abgewandelter Form. "Der stein hat zu blühen sich nicht bequemt, die welle glättet den zorn."

Resigniert hat Kunze nicht. "Fern kann er nicht mehr sein, / der tod / Ich liege wach,/ damit ich zwischen abendrot und morgenrot / mich an die finsternis gewöhne." Tagsüber sucht er weiter nach Mitstreitern, die die Zukunft des Ausstellungshauses sichern.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: